Saint Omer

Das Unfassbare passiert: Laurence Coly, eine junge Frau aus dem Senegal, legt ihr 15 Monate altes Baby ins Meer. Der Säugling stirbt. In der nordfranzösischen Stadt Saint Omer soll Coly der Prozess gemacht werden. Mord oder nicht – das ist die Frage. Zunächst. Im Gerichtssaal sitzt auch eine andere junge Frau: Rama. Die aus Paris angereiste Professorin und Schriftstellerin stammt ebenfalls aus dem Senegal. Sie identifiziert sich mit der Angeklagten und will eine Reportage über den Prozess schreiben. Das Verfahren beginnt, und nach den ersten Aussagen wird klar, dass nichts klar ist. Wer sitzt hier wirklich auf der Anklagebank? Und wie schnell fällen wir ein Urteil im Angesicht unvorstellbarer Taten?

Inspiriert von einer wahren Begebenheit erzählt die vielfach ausgezeichnete Filmemacherin Alice Diop in SAINT OMER von Brüchen in weiblichen Biografien. Ein packender, intelligenter Film über universelle Fragen von Wahrheit, Ausgrenzung und Mutterschaft, ausgezeichnet beim Filmfestival Venedig mit dem Großen Preis der Jury.

Spieltermine

Kinostart: 10.03.2023 u.v.a im Votiv Kino/DeFrance (OmdU), Village W3, Actors Studio, Metro Kinokulturhaus, Admiral KinoBurgkinoBreitenseer Lichtspiele, Cinema Paradiso St. Pölten und Baden, Filmforum Bregenz, Das Kino Salzburg, Programmkino Wels, KIZ Royal Kino Graz, Moviemento Linz, Leokino Innsbruck, Volkskino Klagenfurt, Filmstudio Villach, acht millimiter Kino Mank, FKC Dornbirn, Kino im Kesselhaus Krems, Filmforum Bregenz, Sommer Zeit Fels am Wagram, CHIALA african film festival Graz...

Pressespiegel

„Ein ruhiges, langsam erzähltes Gerichtsdrama von schleichend zunehmender Intensität.“ Die Presse

„Ein packendes Gerichtsdrama nach einer wahren Geschichte.“ Salzburger Nachrichten

„Ein Film, der ans Herz geht.“ Wiener Zeitung

„Ein Meisterwerk“ Jungle World

„Mutig, unerschrocken, modern – ein Meisterwerk.“ Around The World In 14 Films

„Erschreckend und unvergesslich. Wegen solchen Filmen gehen wir ins Kino.“ The Ringer

„Mit SAINT OMER wirft  Alice Diop Fragen auf, statt Antworten zu geben, lässt uns unruhig werden, statt uns zu beschwichtigen oder lediglich zu schockieren.“ Kino-Zeit

„SAINT OMER zerreißt uns das Herz und verblüfft uns dabei.“ Artforum

„Während es in Gerichtsdramen häufig darum geht, Stellung zu beziehen, zeigt uns SAINT OMER, dass die wichtigsten Wahrheiten oft unausgesprochen bleiben.“ Slant Magazine
    

„Sämtliche Filme von Alice Diop insistieren auf die Schmerzen der kolonialen Vergangenheit wie auf jene der postkolonialen Gegenwart – zeigen aber auch den kulturellen Reichtum und die Verantwortung, die aus der Auseinandersetzung mit diesem Erbe erwächst.“ Berliner Zeitung

„Eine Wortspielkette, die sich von dieser ersten Szene bis zum Ende des Films windet, deutet auf die zentrale Motivik: von mer (Meer) zu mère (Mutter) zu chimère (Schimäre, Wahnvorstellung).“ Perlentaucher, Nikolaus Perneczky

„Fasziniert von einem wahren Fall aus dem Jahre 2016, gelingt ihr ein sehr intimer Justizthriller, der nüchtern von wenig erzählten Schicksalen erzählt, in dem er oft nur auf die Gesichter zweier aus dem Senegal stammender Frauen draufhält.“ Outnow.ch

„With her first fiction feature, Diop lets real material speak with an ancient sadness.“ IndieWire

Saint Omer challenges accepted ideas of perspective, of subjectivity and objectivity — and even of what cinema can be when it’s framed by an intelligence that doesn’t accept those accepted ideas.“ Variety

Saint Omer verfährt in seiner Konstruktion so genau und analytisch, dass man erst nach dem Abspann registriert, mit welcher filmischen Wucht man es hier eben zu tun bekommen hat.‘‘  filmfilter
„In her narrative debut, Diop has found a way to mix her hard-hitting documentary style with fiction to raise a mirror to society. This new arena, with its wider reach, makes Diop an exciting filmmaker to watch.“ The Wrap

„It’s a work of deceptive simplicity that gradually reveals a structure of aesthetic and intellectual rigor alike.“ Slant Magazine

„What drives me in cinema is to show the complexity of people who are not seen, who are locked into a dominant gaze, or who are locked into only fantasy images that replicate a power dynamic. I’m much more interested in individuals.“ Slant Magazine

„Her [Guslagie Malanda] Laurence delivers her testimony in impassive, uninflected tones, in exceptionally long takes in which Malanda barely moves, a severe directorial approach on Diop’s part, bringing all the more electricity to a film with artistic nerves of steel.“ The Guardian

"Saint Omer tells a true-crime story in an unusually quiet way, relying on long, slow camera shots and heavy pauses to deliver its emotional punches. In this narrative-fiction debut, the director Alice Diop understands that a restrained image can be more haunting than a graphic one.“ The Atlantic

 

Biografie

Alice Diop, ist 1979 in Aulnay-sous-Bois geboren und wächst in einer senegalesischen Familie in Seine-Saint-Denis auf. Sie macht in ihren Filmen Personen, Landschaften und Erfahrungen sichtbar, die auf den französischen Bildschirmen fehlten. Vom Treppenhaus in La Tour du monde (2005) über den Öffentlichen Verkehr in Nous (2022), bis hin zum Gerichtsgebäude in Saint-Omer (ihr erster Spielfilm, der auf der Mostra 2022 vorgestellt wurde) zeichnet ihr Kino eine Kartografie gelebter Erfahrungen aus dem Exil, den Vorstädten und der kulturellen Vielfalt. Ihre urbanen Erkundungen vermitteln den Anteil an Gewalt und Ungerechtigkeit, der mit solchen Orten verbunden ist (wie Clichy pour l'exemple), während sie gleichzeitig an Dimensionen arbeitet, die selten mit diesen Räumen in Verbindung gebracht werden: Schönheit, Poesie, Zuhören, Geduld... Es ist eine Frage der Richtung, wie es in einem ihrer Dokumentarfilme, Vers la tendresse (César 2017 für den besten Kurzfilm), heißt. Seit 2022 erweitert Diop ihren Ansatz, indem sie im Centre Pompidou eine "ideale Filmbibliothek der Vorstädte der Welt" einrichtet. – Claire Scoville

Festivals & Preise

Silberner Löwe (Grand Jury Preis) - Venedig Filmfestspiele
Löwe der Zukunft (Bester erster Film) - Venedig Filmfestspiele
Edipo Re Award - Venedig Filmfestspiele

Prix Louis Delluc 2022 - ex aequo mit Pacifiction

Bester Film - Prix Jean Vigo

Bester Film - Sevilla European FF

Bestes Drehbuch - Sevilla European FF

Bester Film - Genf IFF

Bester Film - Ghent IFF

Bestes Drehbuch - Chicago IFF

Viennale'22

Material

Filmplakat

Fotos, Plakat, Presseheft

Trailer OmdU Vimeo, Youtube, DCP
Trailer Deutsche Fassung Vimeo, Youtube, DCP

Interviews

INTERVIEW MIT ALICE DIOP

Die Fragen stellte Hélène Frappat

 

Aus welchen Gefühlen heraus entstand Ihr Film?

Alle meine Filme entstehen immer aus einem Gefühl heraus, einer Intuition, die wächst und wächst und zu einer so zwingenden Besessenheit wird, dass der Film geboren wird. Ich sage mir nie: „Hey, dieses Thema ist interessant.“ Es kommt immer von etwas, das auf eine intime Geschichte zurückgeht, manchmal etwas, das schon lange Zeit unerzählt war. Für Saint Omer kommt die Besessenheit von einem Foto, das 2015 in Le Monde veröffentlicht wurde.

Es ist ein Schwarz-Weiß-Bild, aufgenommen von einer Überwachungskamera: eine schwarze Frau schiebt am Gare du Nord einen Kinderwagen mit einem eingewickelten Mischlingsbaby. Ich sah das Foto an und dachte: „Sie ist Senegalesin!“ Zwei Tage zuvor war in Berck-sur-Mer ein Baby gefunden worden, von den Wellen angespült, um sechs Uhr morgens. Niemand wusste, wer dieses Kind war, Journalist*innen und Ermittler*innen vermuteten, dass es sich um ein Migrantenboot handelte, das vom Kurs abgekommen war. Sie fanden einen Kinderwagen in einem Gebüsch in Berck-sur-Mer und konnten ihn anhand der Aufnahmen der Überwachungskameras zu dieser schwarzen Frau mit dem Mischlingskind zurückverfolgen. Ich sehe sie an, ich weiß, dass sie Senegalesin ist, ich weiß, dass wir gleich alt sind, ich kenne sie so gut, dass ich mich wiedererkenne. Und so beginnt eine Besessenheit von dieser Frau.

Ich erzähle es niemandem, aber ich verfolge die Ermittlungen fast stündlich, da alle Zeitungen über dieses Baby sprechen. Ein paar Tage später erfahren wir, dass es sich tatsächlich um eine Senegalesin handelt, Fabienne Kabou, die ihr Baby getötet hat, indem sie es bei Flut am Strand zurückgelassen hat. Sie hat gestanden; ich höre ihrem Anwalt zu, und sofort wird die Frage der Hexerei erwähnt. Ich erfahre, dass sie eine Doktorandin ist, eine Intellektuelle, die ersten Kommentare der Presse heben ihren außergewöhnlichen IQ von 150 hervor. Doch sie sagt, ihre Tanten im Senegal hätten sie verhext, was erklären würde, was sie getan hat... Für mich passt da etwas nicht zusammen. Zugleich frage ich mich, warum alle eine so große Sache daraus machen, dass sie sehr redegewandt ist, schließlich ist sie Akademikerin... Schon bei den ersten Versuchen, ihre Geschichte zu konstruieren, höre ich einen ganz bekannten Mechanismus, eine Summe von journalistischen Projektionen auf diese Frau. Der Prozess fand 2016 statt und ich beschloss hinzugehen. Ich habe niemandem davon erzählt. Ich weiß nicht, wie ich diesen verrückten Akt beschreiben kann, zum Prozess einer Frau zu gehen, die ihr 15 Monate altes Mischlingsbaby getötet hat, obwohl ich selbst die junge Mutter eines Mischlingskindes bin. Aber ich spreche mit meinen Produzent*innen, dass es einen Film gibt, der versucht, sich selbst zu finden.

Ich lande in Saint-Omer, einer völlig verwüsteten Stadt im Norden, wo nur die Wahlkampfplakate von Marine Le Pen noch nicht heruntergerissen wurden. Wie die Figur der Rama am Anfang des Films, laufe ich durch die Stadt vom Bahnhof zum Hotel. Ich spüre die Blicke der Leute, sie starren mich aus ihren Fenstern an, die Leute auf der Straße wenden sich ab, mein Gepäck macht ein so lautes Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster. Ich fühle mich unsicher, denn wenn ich sehe, wie weiße Menschen mich anstarren, verstehe ich. Ich bin der Spiegel ihrer Herabwürdigung. Ich bin eine schwarze Frau, gekleidet wie eine Pariserin, mit einem eleganten Koffer, und ich bin hier in dieser deprimierten Stadt und bin diesen deklassierten Weißen ausgesetzt...

Dieses Bild, das aus einem Thriller oder Horrorfilm hätte stammen können, ist in diesem Film. Auf jeden Fall habe ich von dieser ersten Empfindung aus weitergearbeitet. Im Hotelzimmer beginne ich an diese Frau zu denken, und ich spüre die Anwesenheit von Fabienne Kabou durch das Zimmer spuken. Ich stelle mich meinen Grenzen, einem Teil von mir, der mir Angst macht: meine unsägliche Besessenheit von dieser Geschichte... Was diesen Film auch sehr konkret machte, war, dass ich davon besessen war, das Gerichtsverfahren zu dokumentieren. Am letzten Tag des Prozesses wurde mir klar, dass dieses kleine Mädchen benannt worden war. Mehr als nur benannt, ihre Klage war aufgenommen worden, man hatte sie gesehen...

Sie wurde wiedergeboren, denn vorher war sie in der Vorhölle?

Diese Geburt ist ein Akt der Gerechtigkeit. Ein Akt der Gerechtigkeit für alles, was sie durchgemacht hat, für ihr Leben, nicht nur für den Mord, den ihre Mutter begangen hat. Für sie wurde Gerechtigkeit geübt. Das ist etwas, das mich wirklich bewegt hat. Ich sah mich selbst als ein kleines Mädchen, für das Gerechtigkeit geübt werden konnte, für mein ganzes Leben und für die Geschichte meiner Mutter. An diesem Tag, als die Anwältin von dem tatsächlichen Traum sprach, den Fabienne Kabou hatte, in dem sich das kleine Mädchen in der Robe ihrer Anwältin verbirgt, sagte sie, sie habe verstanden, dass Fabienne Kabou sie bat, nicht nur ihre Stimme zu vertreten, sondern auch die Stimme ihrer kleinen Tochter. Ich brach in Tränen aus. Eine Journalistin, die den Prozess von Anfang an verfolgt hatte und im sechsten Monat schwanger war, weinte auch neben mir... Da wusste ich, dass ich diesen Film machen würde, der für uns alle sein würde, für all die kleinen Mädchen, die wir waren, ein Akt der Gerechtigkeit. So habe ich mir die Geschichte der schwangeren Frau ausgedacht, die dem Prozess beiwohnt. Der ganze Film entstand in dieser Zeit, in der Konfrontation der Tränen der beiden Frauen, einer schwarzen und einer weißen Frau, jede von uns weint um etwas anderes, aber auch für etwas Gemeinsames.

Der Titel Ihres vorherigen Films, We, bezieht sich auch auf diese Frage nach dem Universellen.

Ja, und im Grunde ist das die Frage in all meinen Filmen: dem schwarzen Körper die Möglichkeit zu geben, das Universelle zu sagen. Intuitiv habe ich immer gedacht, dass dies der Fall ist, aber politisch, so scheint es mir, ist das noch nicht akzeptiert. Unsere Intimität wird noch nicht ganz als in der Lage ange- sehen, für die Intimität der anderen zu sprechen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Dialog noch nicht vorgesehen ist. Der Austausch erfolgt nur zu selten in diese Richtung. Aber ich habe mich immer wieder erkannt in weißen Frauen und weißen Männern, in Anna Karenina und Madame Bovary, konnte sagen: „ich bin es auch“. Der erste Film, der mich davon überzeugt hat, dass der schwarze Körper das Universelle vermitteln kann, war 35 Shots of Rum von Claire Denis. Plötzlich sah ich schwarze Schauspieler*innen, die von Themen betroffen waren, die nichts mit ihrer Hautfarbe zu tun hatten, ohne dass dies eine Frage war, und das hat mich wirklich erschüttert.

Was haben Sie auf existenzieller Ebene riskiert, um diesen Film zu machen?

Ich habe es nur widerwillig getan. Dieser Film ist sehr organisch, an vielen Stellen sehr intim, auch wenn ich viel Energie in die Behauptung des Gegenteils gesteckt habe, nämlich dass Rama nicht ich ist, was zum Teil stimmt, aber wie jede Fiktion liegen ihrer Figur Dinge zugrunde, die zu mir gehören, zu meinen Erfahrungen, zu Emotionen, die ich kenne. Jetzt, da der Film fertig ist, bin ich entspannter mit dem Gedanken, dass der Film mir gehört, und ich denke, dass ich ihn machen musste, sowohl aus persönlichen als auch politischen Gründen. In meinem Bedürfnis, die Geschichte dieser Frauen zu erzählen, war der Wunsch, ihr Schweigen zu dokumentieren, ihre Unsichtbarkeit zu reparieren. Das ist auch eines der politischen Ziele des Films. Und darüber zu sprechen, von welchen Müttern wir gekommen sind, welche Last, welches Erbe, welche Schmerzen... Aus welchem Schweigen, aus der Leere des Exils, ihres Exils, der Leere im Leben unserer Mütter, der Leere ihrer Tränen, der Leere ihrer Gewalt, daraus haben wir versucht, unser eigenes Leben zu komponieren. Er versucht Fragen zu beantworten, mit denen alle Frauen konfrontiert sind, und spricht gleichzeitig einen spezifischen Aspekt der Geschichte der Einwanderung an. Wie wir, schwarze französische Frauen, durch diese Mütter zu Müttern wurden.

Wie haben Sie sich dieser Geschichte aus ästhetischer Sicht genähert?

Die Erzählung besteht darin diese Haut, diese Körper festzuhalten, an einem Ort, an dem sie noch kaum sichtbar sind. Das ist das Zeitgenössische an diesem Film: aus dem Off ins Zentrum des Bildes, aber mit einer ästhetischen Kraft. Die Ästhetik des Films ist für mich politisch. Diese Körper sind nicht oft gefilmt worden, diese Frauen. Ich möchte ihnen das Kino als einen Raum anbieten, in dem man sich ihrem Blick nicht mehr entziehen kann, ohne dass es zu sehr stilisiert wird.

Die ersten Referenzen, die ich Claire Mathon, der Kamerafrau des Films, schickte, waren Gemälde. Ich glaube, wir drehten uns um die Idee, die Bildhaftigkeit dieser Körper in die Geschichte des Kinos einzuschreiben. La Belle Ferronière von Leonardo Da Vinci war eines, einige Rembrandts, von Cézanne gemalte schwarze Modelle, und eines in der MET, Grape Wine von Andrew Wyeth, das Porträt eines schwarzen Vagabunden, gemalt wie es Tizian gemalt haben könnte.

Sie sprachen von Gerechtigkeit, und von der Anwältin, die diesem Kind Gerechtigkeit verschaffen will. Glauben Sie, dass es eine Verbindung gibt zwischen Gerechtigkeit und der ästhetischen Frage der Korrektheit?

Auf jeden Fall! Denn die Korrektheit, wie die Gerechtigkeit, macht uns komplex. Ich konnte es nicht ertragen, wie viele Medien über Fabienne Kabou sprachen. Ich sah darin den Wunsch, sie zu einer Opferfigur zu machen, ihrer Tat eine vereinfachte, fast folkloristische Erklärung zu geben - Hexerei - die ihre ganze Gewalt, ihr Feuer, ihre Wut, ihr Aufbegehren, ihre Hässlichkeit abmilderte.
Für mich ist sie eine mächtige Medea, nicht die arme zertrampelte Immigrantin. Diese Erzählung gibt ihr nicht ihre Macht zurück, auch die, die schattenhafter, dunkler, gewalttätiger ist, und über die ich nicht urteile, die ich ihr aber zurückgeben wollte. Für mich bedeuten Korrektheit und Gerechtigkeit, dass ich ihr – und uns – unsere Komplexität zurückgebe. Ich habe selten gesehen, dass die Komplexität einer schwarzen Frau gefilmt, geschrieben oder nacherzählt wurde. Wir werden immer geglättet, gefangen im Blick derer, die das Recht haben, unsere eigene Geschichte für uns zu schreiben.

Warum ist der „weiße Blick“ nicht in der Lage, diese Komplexität zu sehen?

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Komplexität von Fabienne Kabou nicht gesehen wurde, dass sie oft in Stereotypen verhaftet war, viele haben sich beispielsweise über ihre sogenannte perfekte „Aussprache“ ausgelassen. Ich kann mir nicht helfen, ich sehe darin eine Form von unreflektiertem Rassismus, in dieser Besessenheit, sie ständig zu bewerten. Das ist bezeichnend, denn für meine eigene Fähigkeit, meine Gedanken zu artikulieren, wurde mir auch oft dieses bewundernde Erstaunen entgegengebracht. Dieses Erstaunen sagt schon immer viel über die Person aus, die diese Bemerkung macht. Wenn man mir erzählt, dass eine Schwarze Doktorandin über Wittgenstein arbeitet, überrascht es mich nicht, dass sie sehr wortgewandt ist. Gleichzeitig wird mir klar, dass eine Schwarze Frau wie Fabienne Kabou kaum angehört wird, zu wenig sichtbar ist, zu wenig mit Menschen in Berührung kommt, für die eine Schwarze Frau in ihrer Erfahrung vor allem eine Haushälterin ist, die wenig spricht, an der sie vorbeigehen oder neben der sie leben, ohne sie wirklich zu sehen. Ich verbringe mein Leben im Umgang mit Frauen wie Fabienne Kabou, sie sind meine Freundinnen an der Universität und meine Lehrerinnen, Journalistinnen usw... Kabous Sprache beeindruckt mich nicht. Andererseits kann ich sehen, wie sie sich verhält, um nicht an diesem Bild der „Schwarzen“ Frau festzuhalten, wie sie es sich vorstellt, dass man sie ansieht.

Macht sie ihre Sprache „weiß“?

Sie benutzt sie als Waffe gegen andere und im Grunde gegen sich selbst. Ich habe noch nie jemanden so reden hören wie sie! Das dokumentarische Material des Films ist diese Sprache, die Sprache von Fabienne Kabou. Manchmal konnte ich selbst nicht verstehen, was sie sagte: „Ich befand mich in einer sklerosierenden und betäubenden Matrix“... Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet! Fabienne Kabou hatte ein schwärmerisches Verhältnis zur Sprache und das Bedürfnis, gehört zu werden, gesehen zu werden, durch diese Sprache eine eigene Darstellung von sich zu geben, die dem widerspricht, was man über sie sagen könnte, und ihr zu widerstehen. Außerdem muss ich zugeben, dass Guslagie Malandas Darstellung von Fabienne Kabou viel menschlicher ist. Die echte Fabienne Kabou war eine gefrorene Statue, die die Wirkung ihrer Sprache genoss. Als ich zum Prozess kam, dachte ich, ich würde eine herzzerreißende Medea vorfinden, und hier ist eine Frau ohne jegliche Reue, ohne jeden Affekt, extrem kalt... Ich hatte das Gefühl, eine Psychopathin vor mir zu haben! Plötzlich bricht meine mythologische Lesart ihrer Tat - „sublime, forcément sublime“, um Duras zu zitieren – in sich zusammen. Weil die Fantasie des Wiedererkennens vor dem Ungeheuer weicht, kann ich mich nicht mehr in ihr sehen, nicht mehr durch sie an mich denken, die mir keinen Zugang zu ihrer Menschlichkeit gibt. Ich frage mich also, was ich da mache, warum dieser lange Weg, warum habe ich mich in sie hineinprojiziert? Ich muss zugeben, dass ich auch mit einer Fantasie über den lyrischen Aspekt ihres Auftritts in die Verhandlung gegangen bin. Ich hatte einen Artikel von Pascale Robert Diard in Le Monde gelesen, in dem sie schrieb: „Sie hat ihre Tochter an den Strand gesetzt“, für mich hatte sie sie also metaphorisch dem Meer zurückgegeben, sie einer aufnahmefähigeren „Mutter“ angeboten; in Wirklichkeit hatte sie sie ertränkt! Das ist die Unerbittlichkeit der Tatsachen; aber diese Anziehungskraft dieser in meinen Augen fast romantischen Geste hat mir unbewusst geholfen, die persönliche, unsagbare Besessenheit zu verbergen, die mich an diese tragische Geschichte bindet.

Paradoxerweise ist es die Konfrontation zwischen dieser primären lyrischen Lesart und der dokumentarischen Realität des tatsächlichen Prozesses, die mir geholfen hat, über meine Inszenierung und meinen Blickwinkel auf diese Geschichte nachzudenken. In meinem Film ersetzt die Inszenierung die lyrische Dimension, sie ermöglicht uns den Zugang zur Geschichte, befreit sie von ihrer schmutzigen, unhörbaren, undenkbaren Natur, es ist die Inszenierung, die es uns erlaubt, in den Abgrund dieser Geschichte zu blicken und daraus ein größeres Wissen, ein größeres Verständnis für uns selbst zu ziehen, ihr zu vergeben, allen Müttern zu vergeben, allen unseren Müttern. Es ist die Geschichte von Rama, die dies möglich macht, in der Identifikation, die sie dem Zuschauer ermöglicht. Ohne sie, diese fiktive Figur, wäre es nicht mehr als die Geschichte einer banalen und tragischen Nachricht, und der Film wäre nicht besser als eine Kinoversion der französischen Fernsehsendung Führen Sie den Angeklagten herein.

Haben Sie an das Genre des „Gerichtsdramas“ gedacht?

Ja, ein wenig, natürlich an Clouzots Die Wahrheit. Die von Bardot gespielte Figur hat mir geholfen, diese Laurence Coly zu kreieren, die zwischen Fabienne Kabou und der Schauspielerin Guslagie Malanda existiert. Meine Referenzen waren auch literarisch: André Gides Erinnerungen aus dem Schwurgericht, Kaltblütig von Truman Capote, Der Widersacher von Emmanuel Carrère. Was ich an dieser Sachliteratur interessant fand, ist, dass sie über die Literarizität der Nachricht hinausgeht. In Saint Omer wird die Nachricht konsumiert, verdaut, ausgespuckt durch das Prisma meiner persönlichen Geschichte und dieses politischen Projekts, das darin besteht, die Geschichten der Frauen mit der Mythologie zu verbinden, die ihnen nie angeboten wurde, mit der Tragödie, die etwas über uns selbst, über mich, über die Betrachter*innen enthüllt. Natürlich geht all dies von einer wahren Geschichte aus, von dokumentarischem Material, aber die Fiktion erlaubt es uns, daraus etwas zu machen, das nicht mehr die Geschichte einer einzelnen Frau, sondern die Geschichte von uns allen ist. Dies stand im Mittelpunkt meiner Gespräche mit meinen beiden Co-Autorinnen, Amrita David, die auch alle meine Filme geschnitten hat, und Marie Ndiaye. Amrita und ich begannen, etwas zu Papier zu bringen, die Protokolle des Prozesses, und auf der Grundlage dieses ersten Entwurfs baten wir Marie, uns bei der Konstruktion einer Fiktion zu begleiten, die um dieses Material herum gewoben wird.

Sehen Sie in Bezug auf die Inszenierung eine Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation?

Alle meine Filme befinden sich an der Grenze, an der sich die beiden treffen. Ich habe versucht, eine Beziehung zur Wahrheit des Dokumentarfilms herzustellen, nicht nur durch den Text des Prozesses, sondern auch durch die Inszenierung. Ich habe eine Gerichtsverhandlung nachgestellt, nicht im eigentlichen Gerichtssaal, sondern in einem Nebenraum, der zum Filmset wurde. Ich habe ihn in einen holzgetäfelten Raum verwandelt, der etwas Politisches aussagt: eine Schwarze Frau, die in einer Provinzstadt vor Gericht steht, die aber symbolisch den Glanz der Republik verkörpert. Diese Frau in einer gefälschten Filmkulisse mit gefälschten Holzpaneelen in einem echten Gerichtssaal zu platzieren, war eine Möglichkeit, einen bildlichen und politischen Rahmen zu schaffen. Die Zuschauer*innen waren echte Zuschauer*innen aus der Stadt, die Schauspieler*innen spielten einen dokumentarischen Text, in einer nachgespielten dokumentarischen Realität, es gab kein „Action!“, kein „Schnitt!“. Wir haben in chronologischer Reihenfolge gedreht, was bedeutet, dass die Schauspieler*innen den Prozess nach-erlebten. Es ist also eine Kombination aus etwas extrem Stilisiertem – den Kulissen –, extrem Inszeniertem – der Zeitlichkeit der Aufnahmen – und etwas völlig Dokumentarischem: die Art und Weise, wie gefilmt wird, und die Schauspieler*innen aufzufordern, eine absolut dokumentarische Emotion aufzubringen. Ich habe ihnen nur sehr wenige schauspielerische Vorschläge gemacht: Ich habe sie mit dem Text konfrontiert und ihnen vorgeschlagen, ihn durchzugehen und in der Wahrheit des Augenblicks zu handeln. Ich habe vor allem Bühnenschauspieler*innen ausgewählt, wie Valérie Dréville, die die Vorsitzende Richterin spielt. Die Beziehung zum gegenwärtigen Moment ist in dem Film sehr wichtig und im Grunde sehr theatralisch. Es gab einen schönen Moment während der Dreharbeiten. Valérie Dréville hielt mitten in der Aufnahme an, überwältigt von dem Text, und begann zu weinen. Sie hat sich dafür entschuldigt. Ich hatte beim Spielen gesehen, dass dieser Text, von dem sie wusste, dass er dokumentarisch ist, und der genau in diesem Moment erzählt wurde, etwas in ihr, der Schauspielerin ebenso wie der Mutter und Tochter, die sie auch ist, ausgelöst hat. Ich sagte ihr, dass diese unvorhergesehene, unkontrollierte Emotion zum Film gehöre. Das war die Regieanweisung für die Schauspieler*innen, was ich von jedem von ihnen erwartete – dass sie mit ihrer eigenen verborgenen Geschichte auftreten.

Welche Änderungen haben Sie am Text des Prozesses vorgenommen?

Die Passage über die Schimären während des Plädoyers, gespielt von Aurélia Petit. Natürlich wurde bei allen Dialogen alles neu zusammengesetzt, überarbeitet, aber alles ist wahr. Am Set habe ich nicht „Action!“ gesagt. Ich konnte es nicht ertragen, dass da „Kino“ vor mir stand. Denn für mich baut man im fiktiven Kino eine Einstellung nach der anderen auf. Was mich interessiert, ist das, was zwischen zwei Einstellungen ist. Das, was geplant war, hat mich nicht wirklich interessiert! Das kann in Bezug auf den Mechanismus, mit dem Fiktion normalerweise gemacht wird, ziemlich problematisch sein. Ich habe gedreht, was vor mir war, live. Ich habe einen Mechanismus erfunden, in dem sich Realität und Fiktion vermischen, ohne dass ich das unbedingt kontrollieren kann oder will. Es war ein Glück, dass ich diesen Film mit Claire Mathon machen konnte, denn ihre Arbeit zeigt, wie empfänglich sie für diese Art war.
Wir haben die Aufnahmen in einem sehr langsamen Übergang von der Realität zur Fiktion gemacht. Wir haben die Statist*innen oder die Schauspieler*innen nicht immer vorgewarnt, wir haben angefangen zu drehen und plötzlich wurde die Realität durch eine besondere Intensität verdichtet, die Schauspielerinnen sind ganz natürlich in den Text, in ihre Rollen hineingegangen. Ich habe die Aufnahmen nicht viel geschnitten. Wir haben gefilmt, wie die Schauspielerinnen sich vom Geschehen, vom Text überrumpeln ließen. Ich habe Guslagie nicht dirigiert. Ich ließ sie in den Zustand der Besessenheit eintreten, den sie nie wieder verließ. Einen ganzen Monat lang ist sie nicht aus der Rolle der Laurence Coly herausgekommen, die sie völlig neu interpretiert hat. Als Amrita die Aufnahmen bekam, konnte sie sehen, dass die von Guslagie gespielte Laurence Coly nicht die war, die wir geschrieben hatten. Und das war auch egal! Das Einzige, was ich tat, war, ihr einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie ihre Geister beschwören konnte. Das Gleiche gilt für Kayije. Für die Szene, in der Rama in ihrem Hotelzimmer weint, setzte ich mich Kayije gegenüber und begann, meinen Bauch zu berühren, also begann auch sie, ihren Bauch zu berühren, und sie wurde zu mir! Sie spielte eine Szene, die ich während meiner Schwangerschaft erlebt hatte, von der ich ihr aber nichts erzählt hatte. Es war Wahnsinn! Wir waren beide in einer Art Trance. Dieses Shooting war eine Erfahrung, die wir gemeinsam erlebten, wie ein Zauber.

Kinostart mit der Unterstützung von Creative Europe Programme - MEDIA of the European Union