Human Flowers of Flesh
Info
DE/FR-2022, 106 Min. | 1.66:1 | Farbe
Regie, Kamera, Drehbuch, Schnitt Helena Wittmann | Ton Nika Son | Austattung & Kostüm Anna Ostby | Regie Assistenz Luise Donschen | Mit Angeliki Papoulia, Ferhat Mouhali, Gustavo de Mattos Jahn, Ingo Martens, Mauro Soares, Vladimir Vulevic, Steffen Danek, Nina Villanova, Denis Lavant | ProduzentInnen Frank Scheuffele, Karsten Krause, Julia Cöllen | KoproduzentInnen Christophe Bouffil, Fred Prémel, Julie Aguttes | Produktion Fünferfilm | Koproduction Tita Productions
Ida (Angeliki Papoulia) lebt mit ihrer fünfköpfigen Besatzung auf einem Segelschiff. Als sie in Marseille auf die Französische Fremdenlegion trifft, steht sie einer verschlossenen Männerwelt gegenüber und sie beschließt, ihren Spuren über das Mittelmeer zu folgen. Auf ihrem Weg über Korsika nach Algerien verschwimmen Grenzen und Gewissheiten, während das Leben auf See ein besonderes gegenseitiges Verständnis hervorbringt.
Spieltermine
Kinostart: 3. Februar 2023
u.a. im Metro Kinokulturhaus Wien, Votiv Kino Wien, KIZ Royal Kino Graz, Leokino Innsbruck, Moviemento Linz, Filmstudio Villach, Crossing Europe - Tribute Angeliki Papoulia Linz
Pressespiegel
"Die deutsche Filmkünstlerin Helena Wittmann sprengt mit ihrem neuen Film das Panzergrau des Winters." Profil
„Der Film funktioniert so wie eine Meeresoberfläche, die den Blick der Zuschauenden zurück nach innen wirft. Herausgerissen oder noch tiefer eingesogen in die Kontemplation wird man immer wieder von den packenden Sounds der Musikerin Nika Son.“ Missy-Magazine
„Plötzlich atmet das deutsche Kino eine neue Freiheit.“ Die Zeit
★★★„Eine soghafte Symbiose aus hypnotischen Bildkompositionen, verlockenden Klängen, poetischer Ruhe. Ein 120-minütiges filmisches Stillleben, das mit vielen Eindrücken zum Staunen einlädt.“ Kleine Zeitung
"Auch der Film selbst lässt sich gern und jederzeit ablenken, auf weitschweifige Abwege oder zu Beobachtungen verführen, die für sich stehen und ohnehin stets viel faszinierender sind als alles, was einem da erzählt werden könnte, wenn man es denn wollen würde." Perlentaucher.de
„Ein poetischer Bilderreigen der angenehm in Trance versetzt.“ Die Furche
„Ein wunderschönes, mitreißend fließendes Kinowerk“ Sight&Sound
„Ein Film von utopischer Sinnlichkeit.“ Kino-Zeit
★★★★☆ „Man kann mit diesem Film denken und sich gleichzeitig in ihm verlieren.“ Filmdienst
"So sinnlich und poetisch wie hier wurde eine Reise auf einem Segelboot im Kino nur selten dargestellt." Taz
"Helena Wittmanns "Human Flowers of Flesh" ist Reisekino und eine Liebeserklärung an die Filmkamera" WDR
"In seiner Essenz ist dieser Film eine fast abstrakte, fantastisch fotografierte Schichtung von elementaren Erfahrungen auf See und mit dem Meer, dazu ein spannender Versuch, historische Spuren in einer Landschaft zu finden, die ebenso sehr an antiken Mythen denken lässt wie an Cinephilie, an die Moderne und an ihre Überwindungen in einer magischen, mediterranen Transzendenz." TipBerlin
„A towering, teetering and exquisitely-wrought puzzle box.“ Little White Lies
„A meditative gem" IndieWire
Biografie
Helena Wittmann wird 1982 in Neuss geboren. Ursprünglich studiert sie in Erlangen und Hamburg Spanisch und Medienwissenschaften. Zwischen 2007 und 2014 besucht sie die Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). In ihren Filmen und in ihrer künstlerischen Praxis sind Räume weit mehr als bloße Orte einer Handlung. Sie hinterfragt und kontextualisiert die Grenzen dieser Räume, in ihnen, mit ihnen, auf ihnen und entlang von ihnen. 2015-2018 arbeitete sie als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule für bildende Künste und auch als Mentorin im Elias Querejeta Zine Eskola in San Sebastian, Spanien. Sie hat auch Kamera für Luise Donschen, Adnan Softic oderr Philipp Hartmann gemacht. Ihre Arbeiten werden international in Ausstellungen und Filmfestivals gezeigt.
Filmografie
2022 Human Flowers of Flesh
2018 Ada Kaleh, Kurzfilm
2017 Drift
2014 21,3 °C, Kurzfilm
2013 Wildnis, Kurzfilm
Festivals & Preise
Locarno Filmfestpiele - Wettbewerb
Crossing Europe - Tribute Angeliki Papoulia Linz
Material
Interviews
Die größere Ambiguität der Dinge: Ein Gespräch mit Helena Wittmann
[Patrick Holzapfel]
Helena, lassen wir unser Gespräch mit dem Titel deines Films beginnen. Er ist schön, aber auch vage. Kannst du etwas über ihn erzählen?
Ein Freund sprach einmal von den schönsten Filmtiteln, zu denen es Filme geben müsste. Da erwähnte er diesen. Es äußerte das fast wie einen Wunsch, auch wenn er nicht wirklich erwartet hat, dass ich diesen Film wirklich machen würde. Vom ersten Augenblick an, löste der Titel etwas in mir aus. Ich hatte Fragen zu ihm und diese Fragen sorgten dafür, dass ich bei ihm blieb. Mit der Zeit haftete sich der Titel an unterschiedliche Aspekte des Films, an dem ich in der Zwischenzeit arbeitete. Er verflechtet unterschiedliche Elemente und daher finde ich ihn sehr passend. Glücklicherweise ist der Titel in Bewegung geblieben. Ich habe noch immer Fragen an ihn. Hätte ich diese beantwortet, wäre es nicht mehr der Titel meines Films. Da gibt es zum Beispiel diese Beziehung zwischen Human (Mensch) und Flesh (Fleisch). Diese Begriffe könnten das gleiche bezeichnen, aber sie verweisen auf völlig unterschiedliche Formen des In-der-Welt-Seins. Flowers of Flesh. Human Flowers. Es geht darum, wie diese Wörter in einem Satz positioniert auftreten und es geht um die Ideen, die daraus und aus ihrer Beziehung zueinander entstehen. Man kann den Titel unmöglich übersetzen. Deshalb haben wir entschieden, ihn auf Englisch zu belassen.
Wäre man gezwungen, den Titel zu interpretieren, würde man ihn mit einem Aspekt deiner neuen Arbeit verknüpfen, der als Unterschied zu deinem vorherigen Film Drift aufgefallen ist. Es geht um die Präsenz von Männern, männlichen Körpern, dem Maskulinen. War dieser Fokus auf Männer eine bewusste Entscheidung? Kannst du etwas von deiner Arbeit um die Männer erzählen?
Meine erste Begegnung mit der französischen Fremdenlegion war vor etwa sieben Jahren. Es war in Marseille, an der Küste. Diese Männer schienen etwas zu verdecken, zu verheimlichen. Sie waren nicht erreichbar für mich. Ich konnte sie nur betrachten. Ich versuchte Augenkontakt herzustellen, aber sie wichen mir aus. Nichts passierte. Das weckte mein Interesse. Aufgrund dieser einseitigen Blicke und dem Fehlen jedweder Interaktion reduzierte sich ihr Erscheinen auf ihre Körper. Ich stelle mir vor, dass ihnen das im militärischen Kontext auch widerfährt. Die Fremdenlegion ist eine männliche Domäne, als Frau könnte ich nie in sie eintreten. So etwas öffnet natürlich Räume für die Imagination, wir könnten es mein Handlungsfeld nennen. Allerdings war der erste Charakter für meinen Film eine Frau. Ida, die Frau, die das Schiff besitzt und den Kurs bestimmt. In meinen ersten Notizen beobachtete sie die Legionäre, während sie im Meer schwamm. Eine sehr spezielle Perspektive würde ich sagen. Später kam dann die Schiffscrew in den Film und es war mir wichtig, dass es eine rein männliche Mannschaft ist. Ich interessierte mich für diese Konstellation mit der finanziell unabhängigen Ida, die ihrem eigenen Weg folgt und diesen fünf Männern, die für sie arbeiten. Daraus entstand eine Art Balance in Fragen der Macht und das war notwendig für den Film. Die ersten Crewmitglieder, die feststanden, waren Vladimir und Mauro. Ich schrieb ihre Rollen für sie. An Vladmir faszinierte mich seine Körperlichkeit und Größe. Ich mochte es sehr, ihn anzuschauen und stellte ihn mir sofort in Gärten und zwischen Pflanzen vor. Mit Mauro hatte ich ein langes Gespräch, als wir uns zum ersten Mal sahen und ich wusste damals gar nicht, dass er ein Schauspieler ist. Er ist schnell und klug und liebt zu sprechen, zu interagieren. All diese Eigenschaften flossen in den Film. Es sind nicht unbedingt männliche Eigenschaften. Dann gibt es da Gustavo, der im Film Carlos heißt. Man kann ihn im Maschinenraum arbeiten sehen. Er hat ein Faible für Ordnung und Ästhetik. Egal wohin Gustavo reist in seinem Leben, er errichtet sich stets einen kleinen Altar. In seinem Fall wusste ich bis zum Dreh gar nicht wie viel er und seine Rolle gemeinsam haben. Und gerade er leistet viel Arbeit im Film, die normal mit Frauen assoziiert wird. Es gibt viele Tätigkeiten, die die Welten der Schiffsmannschaft und die Fremdenlegion verbinden und die typischerweise als weibliche Domänen gelten: sie machen die Betten, bügeln die Hemden, kochen und so weiter. Claire Denis hat das in Der Fremdenlegionär (Beau travail) auch gezeigt. Es gibt diese Praxis des Sorgetragens, der Pflege, des Kümmerns. Ich denke, dass die Schiffscrew wie ein verzerrter Spiegel auf die Fremdenlegion zurückblickt. Aber natürlich gibt es einen großen Unterschied. Die Legion bewahrt ein bestimmtes Bild von Männlichkeit. Es gibt da eine ganze Marketingstrategie, die dieses Image bewirbt, eine Art Mythos, der unablässig genährt wird mit heroischen Erzählungen und so weiter. Die Crew auf Idas Schiff ist männlich, ja, aber sie sind alle zärtlich und so schaue ich sie auch an. Ich würde sagen, ihre Zusammenstellung ist eher ungewöhnlich. Sie alle haben geschlechtslose Eigenschaften. Das hat auch den Dreh beeinflusst. Wir drehten in einer Umgebung, in der alle füreinander sorgten. Sowas kann man nicht planen, aber es hat sicher mit den Menschen zu tun, die man auswählt und ich habe Menschen gewählt, die mich interessieren und die ich persönlich mag, ganz unabhängig ihres Geschlechts.
Kannst du etwas mehr über deine Annäherung an die Fremdenlegion und deren Geschichte erzählen?
Was man im Film sehen kann, spiegelt recht gut meine Recherche wider. Idas Reise hängt mit meiner eigenen Reise zusammen. Als ich die Legionäre zum ersten Mal an der Küste von Marseille erblickte, fragte ich mich: Wer sind diese Menschen? Etwas war merkwürdig an ihnen, etwas, das ich weder kannte noch verstand. Zwei Jahre später hatte ich eine bizarre Begegnung am Frankfurter Hauptbahnhof. Ein völlig paranoider Typ erzählte mir, dass er nie für Deutschland tötete, aber für Frankreich. Er fühlte sich von den deutschen Behörden verfolgt. Dann erzählte er mir, dass er in der französischen Fremdenlegion gedient habe. Nach diesen Begegnungen, begann ich zu recherchieren. Zunächst dachte ich gar nicht, dass ich darüber einen Film machen würde, ich war einfach neugierig. Das einzige, was ich bis dato von der Fremdenlegion wusste, war das, was Claire Denis in ihrem Film Der Fremdenlegionär (Beau travail) zeigte. Für mich war das eine seltsame kolonialistische Armee aus der Vergangenheit. Aber im Lesen erfuhr ich, dass sie noch immer existierte und nach den Terrorattacken 2013 sogar wieder ausgebaut wurde. Es ist eine bis heute sehr geheime Einheit der französischen Armee mit eigner Verwaltung und Struktur. Noch immer muss man, in den ersten fünf Jahren, in denen man dient, alles hinter sich lassen, in den meisten Fällen legt man sogar seinen Namen ab. Die Legionäre werden im Nahkampf trainiert, man könnte sie als Vorgänger von Söldnerkräften wie Blackwater oder Wagner betrachten. Wann immer ich zurück nach Marseille kehrte, waren da die Fremdenlegionäre in den Zügen oder am Bahnhof. In Korsika sind sie mir auch begegnet. Überall, viele von ihnen. Aus Deutschland bin ich eine solche militärische Präsenz nicht gewohnt. Das hat natürlich gute Gründe. Aber ich hatte keine Angst, ich war neugierig, als gäbe es da etwas, was man herausfinden müsste. Meinem Partner jedoch machte die Präsenz dieser Soldaten Angst. Sie verkörperten die Militarisierung, die wir sonst nur aus den Medien kannten. Diesem Gefühl bin ich gefolgt. Ich wusste, dass dieses harte Training der Legionäre auf etwas zielte. Das änderte meine Wahrnehmung. Etwas brodelte unter der Oberfläche. Die Recherche führte mich auch in die Geschichte. Die Fremdenlegion war ursprünglich in Algerien ansässig. Über 130 Jahre behauptete sie ihr Hauptquartier in Sidi Bel Abbès und sie siedelten erst nach Aubagne in Südfrankreich über als Algerein 1962 die Unabhängigkeit erlangte. Als ich mit Menschen in Frankreich über die Kolonialzeit und den Algerienkrieg sprechen wollte, merkte ich, dass es da immer noch ein großes Tabu gibt. Das Ausmaß dieses Schweigens überraschte mich sehr. Es leben so viele Algerier in Frankreich. Die französische Besetzung war unglaublich grausam. Mir wurde klar, dass der Film historische Wege einschlagen und in Sidi Bel Abbès enden muss. Es ist eine Spurensuche nach dieser Geschichte in der Gegenwart.
Gegen Ende des Films besucht Ida einen Fremdenlegionär in dessen Wohnung. Würdest du sagen, dass Ida und du diesen Männern nähergekommen seid? Ist es ein Film, der eine Annäherung zeigt oder ein Film, der die Unmöglichkeit einer Annäherung zeigt?
Es ist eine Annäherung und es ist auch eine Überschreitung. Es ist interessant, dass du diese Szene erwähnst, weil sie sehr spät in den Film kam. Tatsächlich stand Ida in der ersten Version des Drehbuchs nur an der Schwelle zur Wohnung ohne einzutreten. Aufgrund der Pandemie drehten wir das Ende in Nordafrika ein Jahr nach allen anderen Szenen. Als wir im Oktober 2021 drehten, war der komplette erste Teil des Films bereits geschnitten. Und dieser Schnitt machte mir bewusst, dass Ida in die Wohnung eintreten muss. Auch das hängt natürlich mit dem zusammen, was mir selbst widerfahren ist. Es kam mir zu einfach vor, stets in dieser distanzierten Beobachterposition zu verharren. Ich hatte das Bedürfnis, keinen moralistischen Film zu drehen und das musste sich in der Art und Weise, in der ich den Film machte, spiegeln. Da gab es zum Beispiel die Entscheidung, an realen Orten mit echten Legionären zu drehen. Es war nicht einfach, aber es ist mir wichtig, mich zu exponieren, um die größere Ambiguität der Dinge zu fassen. Ich könnte sehr leicht die Strukturen verurteilen, auf denen sich die Fremdenlegion gründet und in denen sie operiert. Aber als ich diesen Männern begegnete, drängten sich auch andere Fragen in mir auf und die waren eben nicht so leicht zu beantworten. Das ist für mich eine Art des Näherkommens und der Film half mir, dort anzukommen. Das heißt aber nicht, dass ich die Antworten auf diese Fragen gefunden habe.
Kannst du etwas zu Denis Lavant sagen? Es scheint, als ob er die gleiche Rolle in deinem Film spielt wie in Der Fremdenlegionär (Beau travail)?
Ja, er spielt wieder Galoup, ungefähr 25 Jahre später, ungefähr 25 Jahre älter. Es gibt da diese Fäden, die Filme über Jahrzehnte hinweg verbinden. Denis Lavant hat mir erzählt wie Michel Subor in Der Fremdenlegionär (Beau travail) einen Widerhall seiner Figur aus Jean-Luc Godards Der kleine Soldat (Le petit soldat) verkörperte. Und ihm erging es jetzt vielleicht ganz ähnlich. Die Körperlichkeit und das Gesicht von Denis in Der Fremdenlegionär (Beau travail) haben mein Bild des ultimativen Fremdenlegionärs geformt, ein fast ikonisches Bild. Deshalb habe ich Galoup in mein Drehbuch aufgenommen. Während meiner Recherche habe ich viele Youtubevideos gefunden, die das "goldene Zeitalter" von Sidi Bel Abbès zelebrierten. Sie bezogen sich auf die Stadt vor der algerischen Unabhängigkeit. Die Stadt wurde mehr oder weniger von der Fremdenlegion errichtet. Dort war ihre Basis mit Barracken und einer militärischen Infrastruktur, sie wurde größer und größer und später wurde sie sogar Kleines Paris genannt, weil es dort so europäisch aussah. Diese problematische Nostalgie für den Ort, wirkt auf mich wie eine sich fortsetzende Besatzung. Einige Menschen und ehemalige Legionäre wollen diesen Ort so erhalten. Und das, dachte ich, würde Galoup widerfahren. Er würde als Einsiedler in Sidi Be Abbès leben. Das und die schiere Präsenz von Denis motivieren die Szenen mit Galoup in Human Flowers of Flesh. Mich faszinierte zum Beispiel, seine Art zu Gehen. Aber auch sein Gesang. Es war sehr leicht mit Denis zu arbeiten, er arbeitet sehr präzise. Ich hatte das Gefühl, er war angetan davon, Galoup ein bisschen weiter zu erforschen. Während des Drehs erzählte er mir, dass er einige körperliche Erinnerungen an die Figur habe. Denis hat ohnehin ein unfassbares Gedächtnis. Er beherrschte alle Lieder aus Der Fremdenlegionär (Beau travail) auswendig.
Kannst du etwas zum Verhältnis zwischen Recherche und dem eigentlichen Dreh in deiner Arbeit sagen? Man hat den Eindruck, dass beides zur gleichen Zeit geschieht.
Ja, das stimmt, auch wenn wir dieses Mal ein Drehbuch hatten. Das ist ein großer Unterschied zu einigen meiner früheren Filme. Wir filmten wirklich das ganze Drehbuch. Trotzdem hat sich der Prozess sehr organisch angefühlt. Ich habe eine ganze Zeit lang recherchiert, aber das hat sich nie erschöpft. Ich bin an Orte gefahren, habe Menschen und Situationen beobachtet. Ich habe gelesen und mit Menschen gesprochen, ich war in Landschaften, um die Pflanzen zu riechen, dem Wind und den Sprachen zu lauschen, um im Wasser zu sein und die Rhythmen nachvollziehen zu können. Das waren meine Ausgangspunkte für das Drehbuch, das Schreiben selbst hat dann gar nicht so viel Zeit in Anspruch genommen. Meiner Erfahrung nach, hilft eine größtmögliche Klarheit bei Recherche und Drehbuch, um einen Raum zu finden, in dem zusätzliche Details ihren Platz finden. Man kann dann tiefer in die Situationen tauchen, die man beim Dreh kreiert. Dann können sich die Umwandlungen fortsetzen, alles bleibt in Bewegung. Der Prozess ist entscheidend für mich. Ich weiß, dass hat man schon tausendmal gehört, aber es ist mir wirklich wichtig und es macht einen Unterschied. Während des Drehs haben sich viele Dinge gefügt. Magische Zufälle geradezu. Ich erinnere beispielsweise wie wir in der Bucht von Revellata bei Korsika ankerten und ich eines Morgens eine Gruppe Fremdenlegionäre entlang der Küste joggen sah. Sie bildeten genau die Formation, auf die ich mit meiner Einstellung in Calanques, im Prolog des Films, anspielen wollte, wenn wir Ida und drei Crewmitglieder entlang der felsigen Küste gehen sehen. Wir hatten diese Szene nur wenige Tage zuvor gedreht und jetzt beobachteten wir alle die Legionäre vom Schiff aus. Es war, als ob unsere Fiktion Wirklichkeit geworden wäre.
Können wir mehr über dein gleichzeitiges Interesse an Oberflächen und dem, was sich unter ihnen verbirgt, erfahren. Es gibt da eine Szene, in der du einige Soldaten im Wald beobachtest und ihre Tarnkleidung lässt sie wahrhaftig mit der Umgebung verschmelzen, sodass sie im Bild verschwinden. In einer anderen Szene taucht deine Kamera ins Meer, bis sie das Wrack eines Flugzeugs am Meeresboden erreicht und sich über dieses von Meerpflanzen bewachsende, versunkene Metall bewegt. Diese Szenen stehen sinnbildlich für deine Arbeit. Es gibt Geographie und Natur, aber gleichzeitig ist da die Geschichte. Beides hat sich ineinander eingeschrieben. Können wir die Geschichte in der gegenwärtigen äußeren Welt sehen?
Ich denke, dass wir Spuren der Geschichte sehen können, wenn wir genau schauen und uns Zeit nehmen. Man kann sie überall in der materiellen Welt finden. Oberflächen sind etwas sehr Konkretes. Aber es geht immer auch um die Art und Weise, in der wir etwas betrachten. Die Tauchszene, die du beschreibst, ist ein gutes Beispiel, denke ich, weil die Zeit, die es für die Kamera braucht, um dort hinabzutauchen, entscheidend ist. Diese Dauer ist der Schlüssel, um sehen zu können und die verschiedenen Schichten und Zeiten innerhalb dieser Szene zu verstehen. Verschiedene Bedeutungen offenbaren sich nach und nach. Beim Filmemachen geht es mir darum, einen Raum zu schaffen, indem man Dinge wahrnehmen kann, die im täglichen Leben leicht verloren gehen, die überhört und übersehen werden. Das Kino ist ein Ort der Konzentration. Ich liebe das. Manche Menschen haben mir gesagt, dass meine Bilder Marseilles untypisch sind. Aber für mich sind sie das ganz und gar nicht. Ich empfinde die Felsen, die ich zeige, als essentiell für diese Stadt und auch die ins Meer abfallende Bauweise. Geographische Voraussetzungen bestimmen Vieles, zum Beispiel wie eine Stadt sich aufbaut, ihre Verbindungen zu anderen Ländern und Städten, die Winde, die Wassersysteme und so weiter. Es macht großen Sinn für mich, diesen Voraussetzungen zu folgen, um besser zu verstehen, was ich vor meiner Kamera sehe. Das, was ich festgehalten habe, ist das, was Marseille vor mir und meiner Kamera offenbarte. Ein gutes Beispiel dafür ist der Garten. Die verschiedenen vertikalen Perspektiven in den Felsen oder wie ich die Verortung in der Stadt zeige, ich habe das Gefühl, dass ich den Regeln dieses Ortes sehr genau gefolgt bin. Außer den Oberflächen bewahrt natürlich auch Kultur die Geschichte. So könnte man zum Beispiel die Militäruniformen betrachten. An ihnen kann man bestimmte Beziehungen zu Landschaft und Kriegsführung ablesen, weil das Tarnmuster auf bestimmte landschaftliche Gegebenheiten reagiert, um damit zu verschmelzen. Ich denke, dass das sehr klar wird im Film. Was die Geschichte betrifft, hatte ich immer diesen kleinen Streit mit meiner Mutter, die eine großartige Historikerin ist und mich bezichtigt, nie an Geschichte interessiert gewesen zu sein. Aber ich denke, dass das nicht stimmt. Wir haben einfach ein unterschiedliches Verständnis von Geschichte und verschiedene Herangehensweisen. Ich interessiere mich dann, wenn die Geschichte in die Gegenwart ragt. Für mich ist Geschichte etwas sehr chaotisches, nicht chronologisch, sondern ein Stapel verschiedener Materialien, der manchmal in Teilen zusammenfällt. Er ist nicht stabil.
Ist dein Geschichtsbegriff mit einer Eigenschaft verwandt, die Ida im Film von einer anderen Figur gegeben wird? Sie ist flüssig, heißt es einmal. Kannst du etwas mehr zu Ida und auch über deine Arbeit mit Angeliki Papoulia, die sie spielt, erzählen?
Mit dieser Rolle hatte ich die meisten Schwierigkeiten. Ich habe lange nach jemandem gesucht, der sie spielen könnte, aber ich wusste wirklich nicht, nach was genau ich suchte. Da war wieder diese Vagheit, in ihrer extremsten Ausprägung. Ich wusste nur, dass sie eine Frau in ihren späten 40ern sein sollte ohne mütterliche Eigenschaften. Irgendwann hat dann ein griechischer Produzent, dem das Projekt gefiel, Angeliki vorgeschlagen. Als ich sie traf, hatte sie bereits Drift gesehen und das Drehbuch gelesen. Und sie hat alles total verstanden und akzeptiert. Sie hat also auch diese Vagheit akzeptiert und heute denke ich, dass das eine sehr wichtige Qualität von Ida ist. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, aber sie hat so eine Durchlässigkeit an und in sich. Wir haben die Figur während unserer Arbeit gefunden und ich bin Angeliki sehr dankbar, dass sie da mitgezogen hat. Es war auch essentiell auf dem Schiff zu sein. Angeliki wurde ganz furchtbar seekrank, sie hat das später als einen Zustand existenzieller Labilität beschrieben. Während wir auf dem Schiff drehten, wurde Ida ruhiger, durchlässiger und mutiger. Man kann unentwegt eine gewisse Traurigkeit in Angelikis Gesicht erkennen. Da es im Film aber keinen wirklichen Grund für ihr Leiden oder ihre Traurigkeit gibt, wird ihr Ausdruck eine eigene Ebene. Das interessiert mich. Mir gefällt sehr gut, dass Ida eine sehr eigenständige Figur geworden ist. Auch wenn ihre Reise meiner ähnelt, ist sie keineswegs ein Alter Ego oder dergleichen.
Da du jetzt schon von der Seekrankheit gesprochen hast, möchtest du ein wenig ausführen, wie es war, auf dem Schiff zu drehen? Gibt es irgendwelche Geheimnisse, von denen man wissen sollte?
Das Schiff heißt Le don du vent. Es liegt vor Marseille und wurde ursprünglich in Deutschland als Kriegsschiff gebaut, auch wenn es nie eingesetzt wurde. Irgendwann wurde es in ein Segelschiff umgewandelt und nach Marseille verfrachtet. Ich habe es auf einem Event gesehen und mich gleich darin verliebt. Es strahlt eine einladende Wärme aus und war genau das, was ich gesucht hatte. Man kann sich sofort vorstellen, dort zu leben, wenn man an Bord geht. Die Arbeit an meinem vorherigen Film hat mich gelehrt, wie wichtig die Wahl des Schiffs sein würde. Und dieses Mal wollte ich, dass das Schiff ein eigener Charakter wird. Ich liebe den Farbton des Schiffs, es ist fast hautfarben. Selbst wenn es kein kleines Boot ist, hatten wir doch sehr wenig Platz. Wir mussten alles reduzieren. Das erzeugt Zusammenhalt. Wir haben dort ungefähr zehn Tage mit 16 Menschen verbracht. In einer Kajüte gab es drei Stockbetten für sechs Menschen auf neun Quadratmetern. Es war also alles etwas eng. Wir mussten sehr intim miteinander leben. Wie alle Schiffe machte es auch viele Geräusche, fast so als wollte es kommunizieren. Nika Son, die den Ton aufnahm und später das Sounddesign machte, fluchte oft während des Drehs. Aber in der Tonmischung waren wir dann sehr froh über all die Geräusche, die eindeutig zu diesem Charakter gehörten. Nicht nur Angeliki wurde seekrank. Vladimir und manchmal Ferhat. Man kommt in einen interessanten Zustand, wenn man seekrank wird. Man ist dem Meer ausgeliefert, man verliert die Kontrolle. Ich wusste bereits vor dem Dreh, dass Vladimir seekrank werden würde und habe daher einige Szenen für ihn in diesem Zustand geschrieben. Glücklicherweise bin ich selbst nicht seekrank geworden und ich kann wieder sagen, dass ich es geliebt habe, auf einem Schiff zu drehen. Es ist tatsächlich der beste Drehort, den ich mir vorstellen kann. Es ist ein sehr konzentrierter, ruhiger Ort und die Zeitwahrnehmung ändert sich auf dem Meer. Die Zeit dehnt sich aus und man hat mehr von ihr. Nach diesem Zustand suche ich. Es geht darum, sich der Arbeit und der Welt auszuliefern. Schiffe sind perfekt dafür.
Kannst du sagen, wann Nika zum Film stieß und wie sie am Drehort arbeitet?
Wir sprachen schon über das Projekt bevor ich ein Wort geschrieben hatte. Und das Drehbuch enthielt bereits die Tonebene, also das, was man hören sollte. Ich versuche da mit dem Ton möglichst konkret zu sein, genau wie mit den Bildern. Ich habe das große Glück, schon lange mit Nika zu arbeiten. Seit 2009 teilen wir ein Atelier und wir haben stets ein Interesse für konkrete Musik und bestimmte Formen der Komposition geteilt. Bei Drift hat sie auch das erste Mal am Drehort aufgenommen. Es war jetzt ganz ähnlich. Sie hat den Originalton für die geschriebenen Szenen aufgenommen, sich aber immer wieder auch unabhängig auf die Suche nach Tönen gemacht, um so eine Art Archiv zu erstellen. Sie verwendet verschiedene Mikrophone. Dann kommen wir irgendwann zum Sounddesign. Das ist sehr viel Arbeit und eine der Dinge, die ich am meisten am Filmemachen liebe. Die Musik, die man in der Tanzszene hören kann, wurde auch von Nika komponiert. Es war das erste Mal, dass sie Musik für einen meiner Filme komponierte. Es gibt also immer neue Herausforderungen.
Es gibt einige faszinierende formale Herangehensweisen in deinem Film. Es gibt eine Sequenz, die den Film als Cyanotypie entwickelt oder an eine Szene, in der du mit mikroskopischen Bildern arbeitest. Kannst du über diese Verfahren berichten?
Als ich von Cyanotypien hörte, spürte ich sofort deren Verbindung zum Meer und zu meiner Wahrnehmung. Da gibt es zum Beispiel die Sache mit der Farbe. Aus ästhetischer Sicht kann man mit Cyanotypien alles wie unter dem Wasser erscheinen lassen. Dann gibt es da auch die Bedeutung von Chemie für den Prozess, es war mir wichtig, diese Materialität zu integrieren. Materie, die sich verflechtet und Bedeutung transportiert, das ist ein entscheidender Teil des Films. Deshalb haben wir auch auf Film gedreht, auch ein chemischer Vorgang und ein Medium. Man erkennt den Unterschied zwischen Film und Cyanoypien sofort. Bei letzteren gibt es keine Körnung und zusätzlich zu den Farbunterschieden bewirkt das nochmal ganz andere Eigenschaften. Das tolle an Cyanotypien ist, dass der chemische Vorgang dahinter sehr einfach ist. Trotzdem musste ich sehr viel herumprobieren, bis die Chemie am leeren Filmmaterial haften blieb und gute Ergebnisse produzierte. Diese Experimente dauerten ein Jahr an. Am Ende habe ich jedes der 4000 Einzelbilder dieser Sequenz mehrfach angefasst. Das war mir wichtig, es ging im wahrsten Sinne des Wortes darum, die Intention zu berühren, sie zu fassen. Auch die Zeit, die das dauerte, war wichtig, man könnte es mit einem Reifeprozess vergleichen. Die mikroskopische Sequenz war bereits im Drehbuch, aber in einem anderen Kontext, an einer anderen Stelle mit einer anderen Intention. Sie enthält einiges, was mir für den Film wichtig war. Ein Aspekt ist natürlich der Maßstab, das Größenverhältnis, das kommt wiederholt vor. Gleich in der ersten Einstellung des Films zum Beispiel, wenn auch in anderer Art. Diese mikroskopischen Bilder haben etwas ganz spezielles an sich, etwas magisches. Sie sind sehr konkret und zugleich abstrakt. Sie könnten in unseren Körpern sein oder in der äußeren Welt, dem Meer zum Beispiel. Sie hängen auch mit Bildern des Weltalls zusammen. Diese kleine Kreaturen, die man da sehen kann, sind wie Boten, die uns etwas berichten.
Dein Drehort ist ja nicht nur das Schiff, sondern auch der Mediterran. Der Mediterran ist so viel mehr als ein Meer. Er ist ein Schmelztiegel der Kulturen und auch eine eigene Kultur. Außerdem hängen sich viele für unsere Zeit entscheidende Fragen dort auf. Wie blickst du auf den Mediterran? Hat sich deine Wahrnehmung mit deiner Arbeit verändert?
Das ist natürlich eine sehr große Frage. Ich kann vielleicht sagen, dass der Mediterran sich in meiner persönlichen Wahrnehmung tatsächlich durch die Arbeit am Film verändert hat. Er wuchs mir ans Herz und ich ich betrachte ihn als sehr lebendig. Vor diesem Film hat der Mediterran hauptsächlich etwas repräsentiert oder gespiegelt für mich. Es ist ein Raum, der unfassbar besetzt ist von Themen, Diskursen, Mythen und Tragödien. Als ich mich ihm annäherte, begann ich besser zu verstehen wie bestimmte Aspekte sich von Kultur zu Kultur bewegen. Diese andauernde Bewegung ist wahrscheinlich eine der Haupteigenschaften, die ich erkennen kann. Es braust und sirrt dort, auch wenn der mediterrane weniger ehrgeizig daherzukommen scheint wie der nordeuropäische Lebensstil. Es gibt viele dieser scheinbaren Widersprüche. Diese mediterranen Kulturen, die so verschieden sind und doch so viel teilen. Im Vergleich zum atlantischen Ozean fand ich die Beziehung des Mittelmeers zu seinen Küsten viel stärker. Auf dem Meer konnte ich das Land immer spüren im Mittelmeer. Es scheint mir, als würde diese Region von Flüssigkeit, einer Durchlässigkeit geprägt sein. Aber diese Begriffe scheinen nicht ganz treffend. Lass mich Predrag Matvejevi zitieren, er beschreibt so viel besser als ich es könnte:
„Der Mediterran ist nicht nur Geographie. Seine Grenzen werden weder von Raum noch Zeit gezogen. Wir wissen nicht wie und auf welcher Grundlage wir sie ziehen sollten. Sie sind weder ethnisch noch historisch, sie knüpfen sich weder an Staaten noch an Nationen. Der mediterrane ‚Kreidekreis‘ wird unablässig aufgemalt und wieder weggewischt, Wind und Wellen, Abenteuer und Inspiration vergrößern und verkleinern ihn nach ihren Maßstäben.“ [Predrag Matvejevi, aus Der Mediterran]
Während der Produktion von Human Flowers of Flesh mussten wir auch mit einer komplexen politischen Situation umgehen. Kurz bevor die Pandemie begann, gingen die Menschen in Algerien auf die Straße, um gegen die korrupte Militärregierung zu demonstrieren. Präsident Bouteflika trat zurück, aber die Situation wurde nicht besser unter Präsident Tebboune. Er nutzt die pandemische Situation und hielt das Land in seinem extremen Lockdown. Man konnte mehr als ein Jahr lang weder ein- noch ausreisen. Das hat uns natürlich auch betroffen, wir haben zwei Jahre versucht, ins Land zu kommen, aber es hat nicht geklappt. Schließlich haben wir uns dafür entschieden, den algerischen Teil in Marokko zu drehen. Das war keine einfache Entscheidung für mich. Aber so ist nochmal eine andere Wirklichkeit in den Film eingezogen.
Deine Figuren hängen viel herum, sie betrachten das Meer, schwimmen, sie lassen die Zeit vergehen und das Leben scheint durch sie zu fließen. Würdest du sagen, dass ihre Handlungen und Nicht-Handlungen mit ihrer Umgebung und dem Mediterran zusammenhängen?
Ja, total. Es ist ein Leben, das sich von etwas befreit hat, mit dem ich in Deutschland, wo ich herkomme, Schwierigkeiten habe. Ich meine diesen Zwang alles zu klären, zu kategorisieren, zu bestimmen. In Marseille beispielsweise habe ich das Gefühl, dass es mehr Raum für Chaos gibt, dass Widersprüche und Konflikte akzeptiert werden. Die Stadt kann sicher fordernder sein, das tägliche Leben ist nicht so funktional wie in Hamburg. Aber es gibt diesen Raum für unwahrscheinliche Begegnungen und Überraschungen. Wenn man auf einem Segelboot auf dem Meer ist, dann ist man abhängig von Wind und Strömungen und so weiter. Jede Sekunde kann alles verändern und die Richtung bestimmen, in die man segelt. Daran würde ich mich gern orientieren, was das Leben an Land angeht.
Du arbeitest nicht nur mit dieser Façon des In-der-Welt-Seins, sondern auch mit tatsächlichen Objekten und Pflanzen, die mit dem Meer in Verbindung stehen. War von Anfang an klar, dass sie in deinem Film eine wichtige Rolle einnehmen?
Was mich an all dem Leben in den Ozeanen fasziniert, ist dessen unermeßliche Größe und wie all das in direkter Verbindung mit uns steht, aber trotzdem so schwer auffindbar ist. Wir müssen tauchen oder angeln oder darauf warten, dass ein Storm dieses Leben an Land spült. Aber es existiert jederzeit, natürlich. Es ist wie eine riesige Parallelwelt. Mir war es wichtig, einen Dialog zwischen Land und Meer zu ermöglichen durch bestimmte Lebewesen und Objekte im Film. Es gibt da eine Schnecke, die mit aufs Meer fährt oder eine Alge, die auf dem Schiff landet. Auch sie sind Boten für mich und wenn sie aus dem Meer kommen, dann sind sie Boten aus der Tiefe.
Du drehst keine Postkartenbilder des Meeres und es kommt so, weil man in jeder Sekunde spürt, dass du lieber eintauchen als betrachten möchtest. Human Flowers of Flesh ist kein Film über das Mittelmeer, es ist ein Film mit dem Mittelmeer. Inwiefern ist für dich wichtig, dass dieser Raum auch ein bedrohter Raum ist oder zumindest einer, der heftigsten umwelttechnischen Änderungen unterliegt?
Das besorgt mich mit am meisten. Natürlich denke ich nicht andauernd daran, wenn ich am oder im Meer bin. Trotzdem ist es ein wiederkehrender Gedanke, ganz einfach, weil es so offensichtlich ist. Wenn man reist und mit Menschen spricht, die nah am Meer leben, erzählen sie von diesen Veränderungen, die sie in der relativ kurzen Spanne ihres Lebens beobachteten. Es ist sehr alarmierend und ich lerne daraus, dass wir für das Meer Sorge tragen müssen, wir müssen es schützen. Ich sehe auch Projekte, die sich dem Meer widmen und ihm helfen, sich zu erholen, das hilft dabei, in die sonst eher düstere Zukunft zu blicken. Gleichzeitig denke ich, dass wir nicht zu überheblich sein sollten, indem wir glauben, die Prozesse auf diesem Planeten und ihr zeitliches Fortschreiten zu kontrollieren. Wir können wahrscheinlich nur formen, was wir „Welt“ nennen und das nur bis zu einem gewissen Grad. Es stimmt, dass ich ins Meer tauchen möchte. Wie ich bereits sagte, das Meer ist für mich ein Beispiel für das, was sein könnte.
Eine Utopie?
Ja, das könnte man sagen. Human Flowers of Flesh ist wahrscheinlich ein utopischer Film. So hat es sich oft angefühlt, als wir ihn gemacht haben. Gleichzeitig beschäftigt er sich mit einer Geschichte, die alles andere als utopisch ist.
Es gibt auch etwas Utopisches, in deinem Umgang mit Sprachen im Film. Es gibt sehr viele verschiedene Sprachen und sie existieren harmonisch nebeneinander.
Ich liebe es, verschiedene Sprachen zu hören und sie zu lernen. Ich glaube auch, dass faszinierende Unfälle und wundervolle Überraschungen entstehen, wenn man mit Fremdsprachen arbeitet, auch was den Ton betrifft. Im Mediterran gibt es viele unterschiedliche Sprache, sie vermischen sich, sie schließen ein und aus. Schließlich gebrauchen wir Sprachen, um zu kommunizieren. Sie erlauben uns auch, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Es geht um Begegnungen. Es war ganz natürlich, diese unterschiedlichen Sprachen im Film zu haben und auch am Set. Es gab viele Sprachen, die ich nicht wirklich verstand und manche schlicht gar nicht. Der Monolog von Ferhat beispielsweise ist auf Tamascheq, einer berberischen Makrosprache. Er hätte ihn auch arabisch sprechen können, er war arabisch geschrieben. Aber Ferhat stammt aus einer kabylischen Familie in Algerien und seine erste Sprache ist Tamascheq. Das ist eine Sprache, die ich nie zuvor gehört habe. Wir haben zusammen übersetzt, das war eine großartige Erfahrung für mich. Und dann gibt es da die sprachliche Verbindung zur Fremdenlegion. Menschen mit den verschiedensten kulturellen Hintergründen kommen dort zusammen. Sie lernen ein rudimentäres Französisch in den ersten Wochen, da geht es hauptsächlich darum, dass sie die Befehle verstehen. Von dieser Basis entsteht dann fast eine eigene Sprache. Die Laute variieren stark. Man bekommt einen Eindruck davon, wenn man den Fremdenlegionären lauscht, die im Film am Pizzawagen abhängen. Für unseren Cast und die Crew war die gemeinsame Sprache Englisch, aber es gab Teammitglieder, die kein Englisch sprachen. Also haben wir eigene Sprachen und Wege gefunden, um zu kommunizieren. Wir haben uns gegenseitig geholfen, Übersetzungen sind sehr spannende Vorgänge.
Ist Human Flowers of Flesh ein offenerer Film als Drift ist? Es scheint mehr Raum zu geben für Dinge, die außerhalb der subjektiven Wahrnehmung geschehen.
Absolut. Human Flowers of Flesh erweitert den total intimen Ansatz von Drift.
Dennoch ist man wieder ins Driften gekommen. Immer dann, wenn du Wasseroberflächen filmst oder auch in diesen schlummernden Zwischenzuständen zwischen Dunkelheit und Licht oder in der Tanzszene. Kannst du etwas über diese Momente sagen?
Es geht darum, die Kontrolle zu verlieren. Diese Zustände interessieren mich, wann immer ich sie vorfinde. Träume sind auch ein wichtiger Teil meines Lebens genau wie tiefer Schlaf. Ich falle recht leicht in diese Zustände, aber ich weiß, dass das nicht allen Menschen gleich gelingt. In diesen Zuständen verknüpfen sich die Gedanken anders. Intuition wird wichtiger. Es ist schwer zu erklären, aber es ist mir wichtig.
Wäre das ein Anspruch für dich, dass das Publikum die Kontrolle verliert, während es den Film sieht?
Ich würde sagen, es ist eine Einladung mitzukommen, ohne jeden Schritt zu hinterfragen. Natürlich kann ich nicht wirklich über das Publikum sprechen, aber ich hoffe, dass Menschen dem Film vertrauen und ein wenig von dem erleben, was in mir vorging. Dass sie diese Einladung annehmen und woanders ankommen.