Sleep with Your Eyes Open (Dormir de olhos abertos)
Info
BR/AR/TW/DE-2024, 97 Min., 1.85:1, 4K, 5.1. 24fps, Farbe, OmdU
Regie Nele Wohlatz | Drehbuch Nele Wohlatz, Pío Longo | Kamera Roman Kasseroller | Schnitt Tsai Yann-shan, Ana Godoy | Sound Design Mercedes Tennina, Tu Duu-Chih | Ton Javier Farina | Kostüm Rita Azevedo | Szenenbild Diogo Hayashi | Produzent*in Emilie Lesclaux, Kleber Mendonça Filho, Justine O., Roger Huang, Violeta Bava, Rosa Martínez Rivero, Meike Martens, Nele Wohlatz | Ausführende*r Produzent*in Dora Amorim, Maurício Macedo | Eine Cinemascópio Produktion in Koproduktion mit Ruda Cine, Yi Tiao Long Hu Bao, Blinker Filmproduktion
Mit Chen Xiao Xin (Xiao Xin), Wang Shin-Hong (Fu Ang), Liao Kai Ro (Kai), Nahuel Pérez Biscayart (Leo), Lu Yang Zong (Yang Zong)
Eine Küstenmetropole in Brasilien. Kai landet mit gebrochenem Herzen aus Taiwan, um dort Ferien zu machen. Eine kaputte Klimaanlage führt sie in das Regenschirmgeschäft von Fu Ang. Er könnte ein Freund werden, doch die Regenzeit bleibt aus und sein Geschäft verschwindet. Auf der Suche nach Fu Ang entdeckt Kai die Geschichte von Xiaoxin und einer Gruppe chinesischer Arbeiter in einem noblen Wolkenkratzer. Importprodukte made in China treffen auf Probleme mit den reichen, weißen Nachbarn. In Xiaoxins Erzählung findet Kai sich merkwürdig gespiegelt.
Hauptfiguren kommen und gehen unverhofft in dieser leisen Komödie der Missverständnisse, dargestellt durch Laien und Schauspieler:innen. Von einer fremden Stadt in die nächste folgen sie mehr den Notwendigkeiten der Arbeit als einer klassischen Dramaturgie. Aber im Laufe eines heißen, langsamen Sommers wachsen zarte Bindungen zwischen ihnen wie Inseln in einem Meer voller Haie.
Spieltermine
Kinostart: 2025
Pressespiegel
„Erzeugt mit poetischer Beiläufigkeit eine Vertrautheit, die stärker wirkt als das Gefühl der Entfremdung.“ Tagesspiegel
★★★★ „Es gelingt Wohlatz, mit ihrem Ensemble aus Laiendarsteller:innen und professionellen Schauspieler:innen über Isolation und Entwurzelung zu reflektieren und dabei stets den richtigen Ton zwischen Absurdität und Melancholie zu finden.“ Kino-Zeit
„Es geht eigentlich darum, das nicht identische zu feiern und das Homogene infrage zu stellen. Sehr lustig, sehr unterhaltsam.“ Deutschlandfunk
„Wohlatz bringt eine leichte Note in einige ernste, weltpolitische Themen und schafft einen Film, der sowohl spielerisch als auch tiefgründig ist.“ Screen Daily
„Mit losen Erzählfäden und viel Sinn für absurde Komik zeichnet der Film das Porträt von Reisenden und Arbeitsnomaden in einer chinesischen Community.“ 3sat Filmtipp
★★★★ „Ein spielerischer Tanz“ Filmdienst
„Das Aufeinanderprallen der verschiedenen Kulturen erzeugt zuweilen eine feinfühlige Komik, die sich immer über das Leben an sich, niemals aber die Figuren auf der Leinwand lustig macht.“ Filmlöwin
„Die Besonderheit ihrer Arbeit liegt in den anspruchsvollen strukturellen Spielen, die ihr zugrunde liegen. Es ist klar, dass die Hauptstärken und das Interesse des Films in der sinnlichen Darstellung der kulturellen Entfremdung liegen.“ International Cinephile Society
★★★★ „Was Sleep with Your Eyes Open erforscht, ist jedoch ein Gefühl des Fremdseins und der Verlorenheit, das sich trotz unterschiedlicher Umstände über Kulturgrenzen hinweg spiegeln kann.“ epd-Film
„Fängt die Situation der Migranten eindringlich ein.“ The Film Stage
„Zart und aufregend, seltsam und faszinierend.“ Otros Cines
„Ein kleiner großer Film, intelligent konstruiert.“ Cinema7Arte
★★★★ „In Sleep With Your Eyes Open verbindet Nele Wohlatz auf subtile Weise individuelle Schicksale und gesellschaftliche Realitäten, die sowohl die Ungewissheiten als auch die Chancen menschlicher Begegnungen offenbaren.“ Filmstarts
„Dies ist keine außergewöhnliche Geschichte, sondern eine gewöhnliche. Genau darin liegt ihre Kraft.“ Filmlöwin
„Nele Wohlatz' transnationaler Spielfilm verbindet Form und Inhalt zu einer mäandernden Erkundung von Sprache und Erbe innerhalb der chinesischen Diaspora in Brasiliens Recife.“ CinEuropa
„Unbedingt sehenswert.“ Tagesspiegel
„Solche Szenen machen aus Sleep With Your Eyes Open einen sehr wachen Film. In dem fühlt man sich schnell heimisch. Dabei erzählt er von nichts anderem, als dem Leben in der Fremde.“ taz
Biografie
Die Filmemacherin Nele WOHLATZ (1982, Deutschland) studierte Szenografie und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Film an der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires, wo sie 12 Jahre lang lebte. In ihren Filmen erforscht sie das Verhältnis von Sprache und Filmsprache sowie die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Ihre Arbeiten wurden auf Festivals wie Locarno, Rotterdam, Viennale, Mar del Plata und in Institutionen wie dem New Yorker Lincoln Center und dem MoMA gezeigt. Ihr Spielfilmdebüt El futuro perfecto wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Leoparden für das beste Debüt in Locarno, und wurde zu mehr als 70 internationalen Filmfestivals eingeladen.
Filmografie
2024 Dormir de Olhos Abertos (Sleep with Your Eyes Open)
2021 Turista - Kurzfilm
2016 El Futuro Perfecto
2016 Tres oraciones sobre la Argentina (Drei Sätze über Argentinien) - Kurzfilm
2014 La Mochila Perfecta (Der perfekte Rucksack) - Kurzfilm
2013 Ricardo Bär (Ko-Regie)
2009 Novios del Campo - Kurzfilm
2009 Schneeränder - Kurzfilm
Festivals & Preise
Berlinale 2024 - Encounters | Fipresci Preis
Viennale 2024
Material
Interviews
Geisterhafte migrantische Identitäten. Interview mit Nele Wohlatz beim Deutschlandfunk Kultur
Q & A MIT NELE WOHLATZ
Was hat diesen Film und seinen Entstehungsprozess inspiriert?
Mein vorheriger Film El Futuro Perfecto behandelt spielerisch Fragen von Sprache und Identität nach der Migration. Es ist ein optimistischer Film. Eine Weile, nachdem wir den Film fertiggestellt hatten, sagte mir Xiaobin Zhang, die Hauptdarstellerin: „Jetzt bin ich hier in Buenos Aires, es geht mir gut. Ich glaube, ich könnte überall hingehen und mich anpassen, aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.“
Ich lebte damals selbst mehr als zehn Jahre in Argentinien. Zehn Jahre sind lang genug, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Land, aus dem man kommt, zu verlieren. Aber auch, um zu erkennen, dass man nie zu einem unsichtbaren Teil der neuen Gesellschaft werden wird.
Aus diesem Erleben entstand der Wunsch einen Film zu machen, der überall auf der Welt spielen könnte, mit Menschen, die irgendwo anders hingehen könnten und nirgends dazu gehören.
Auf einem Filmfestival erzählte mir der brasilianische Regisseur Kleber Mendoça Filho von den sogenannten „Zwillingstürmen“, einem illegal errichteten Luxus-Wohnkomplex in seiner Heimatstadt Recife. Zwischen den ‚rechtmäßigen‘ brasilianischen Bewohner:innen und den ‚neuen‘ chinesischen Bewohner:innen, die in der sozialen Ordnung nicht vorgesehen waren, kam es zu rassistisch konnotierten Konflikten. Die „Zwillingstürme“ schienen ein absurder urbaner Mythos. Sie versprachen den Hintergrund, nach dem ich gesucht hatte.
Xiaobin reiste zweimal mit mir nach Recife. So hat alles angefangen: zwei Ausländerinnen, die sich in ihrer Wahlheimat Buenos Aires nicht mehr wohlfühlen, interviewen die chinesische Community von Recife zu ihrem Leben zwischen Alltag und Fremdheit.
Welche Bedeutung hat der Titel des Films?
Ich war überrascht, wie informell das Wissen weitergegeben wird, das man braucht, um ein Geschäft für chinesische Importartikel zu führen. Die Menschen ziehen auf die andere Seite der Erdkugel, ohne Sprachkenntnisse oder Ausbildung. Verwandte oder Bekannte unterstützen sie, um mit einem Touristenvisum nach Brasilien zu reisen, bringen sie bei sich unter und lassen sie zunächst unbezahlt für sich arbeiten. Dabei lernen sie das Notwendigste und eröffnen so bald wie möglich ihr eigenes Geschäft. Es ist ein komplexes System wechselseitiger Abhängigkeiten, das von außen manchmal als Ausbeutung missgedeutet wird.
Das Wissen und die Regeln stehen nirgends geschrieben. Und Fu Ang schwirrt der Kopf von diesem ungeschriebenen ‚Manual for Chinese Immigrants‘. Eine Regel darin könnte lauten: Sleep with Your Eyes Open. Schlaf nicht ein, zumindest nicht tief.
Solche Ideen kamen aus den Gesprächen in der Recherche. Die Besitzerin des Stoffblumenladens, in dem wir gedreht haben, plagten nachts Heimweh, die Sorge um das Geschäft und um die Familie in China, die von ihr abhängt.
Wir sehen auch Xiaoxin und Kai nachts wachliegen. Schlaflosigkeit ist ein seltsamer Zustand, in dem Traum, Alptraum und Wachheit ineinander übergehen und der sich wie ein Schleier um alles Erlebte wickelt.
Können Sie Einblick in das gesellschaftliche Gefüge der Küstenstadt in Brasilien geben, vor deren Hintergrund der Film spielt?
Das Hochhaus, in dem Xiaoxin und die anderen leben, spielt auf die „Zwillingstürme“ von Recife an. Sie stehen sinnbildlich für eine Stadtplanung, die den öffentlichen Raum vernachlässigt und sich den Bedürfnissen der Reichen anpasst. Die Türme stehen am Rand der Altstadt, am Meer, und kehren der Stadt den Rücken zu. Natürlich gibt es städtebauliche Bestimmungen, die es verbieten, hier 37 Stockwerke hoch zu bauen - zumal auf öffentlichem Grund. Korruption ermöglicht es, trotzdem zu bauen. Politiker:innen und Richter:innen werden bezahlt - teils mit Wohnungen in den Türmen - und was erst einmal steht, wird nicht abgerissen.
Es gibt Swimmingpools und Gyms und Partyräume und mit dem Auto fährt man aus der Tiefgarage in andere private Türme, Shopping-Malls oder zu Privatstränden. Die einzigen Personen, die die Türme zu Fuß betreten, sind die Bediensteten und die chinesischen Bewohner:innen, die auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße in der Altstadt arbeiten.
Um die 2000er, während die „Zwillingstürme“ geplant werden, kommen vermehrt chinesische Einwander:innen nach Recife. Viele haben zuvor in Argentinien gelebt, bis dort die Wirtschaft zusammenbrach. Sie beginnen als informelle Händler:innen und verkaufen billige Importwaren wie gefälschte Designer-Handtaschen. Einige werden als Importeur:innen reich und kaufen Wohnungen in den „Zwillingstürmen“, die praktischerweise nahe am Arbeitsplatz liegen.
Die Wohnungen im Turm sind riesengroß. Reiche brasilianische Familien haben üblicherweise Bedienstete bei sich wohnen. Die Chines:innen nutzen den Platz, um Neuankömmlinge bei sich unterzubringen, häufig Menschen vom Land oder aus der Arbeiterschicht. Diese Konstellation sorgt für Stress mit den brasilianischen Bewohner:innen, die nicht wissen, wer arm und wer reich ist, die keine Geduld für kulturelle Missverständnisse haben und Fahrstühle und Gemeinschaftsräume nicht mit Migrant:innen teilen wollen. Sie beschweren sich über Küchengerüche und ihre Mitbewohner:innen im Swimming Pool. Die Chines:innen bringen die Ordnung der Dinge durcheinander, die klare Abgrenzung gegen Arme. Obwohl sie keine politische Motivation haben, bilden sie eine Art subversive Kraft in den Türmen.
Wie ist die Erzählung aufgebaut, insbesondere das Porträt zweier chinesischer Frauen, die sich nie wirklich begegnen, deren Wege sich aber auf unerwartete Weise kreuzen?
Der Film spielt in Brasilien, aber er nimmt eine ausländische Perspektive ein. Die Hauptfiguren sind alle fremd in der Stadt. Kai ist eine Touristin, eine Besucherin, sie spiegelt auch meine Perspektive.
Kai findet die Postkarten mit Xiaoxins Notizen, daraufhin tauchen wir in deren Geschichte. Aber nach zwei Dritteln, wenn der letzte Akt beginnen müsste, verschwindet Xiaoxin aus der Stadt und aus dem Film, entgegen den traditionellen Regeln der Dramaturgie. Ein klassischer Held kehrt am Ende geläutert an den Ausgangspunkt zurück. Aber bei meiner Arbeit mit chinesischen Migrant:innen habe ich eine andere Art der Reise beobachtet. Die Menschen zogen oft sehr plötzlich um: in eine andere Stadt, ein anderes Land oder zurück nach China.
Wir konstruieren Geschichten, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben. Dafür will ich auch die Muster und Dramaturgien hinterfragen, mit denen wir gelernt haben, unsere Erzählungen zu strukturieren. Die Heldenreise basiert auf einer Perspektive, die nicht die meine ist. Mich interessieren die multiplen Gründe für Migration, andere Formen der Familie, des Zusammenlebens, der Zugehörigkeit.
Nachdem Xiaoxin verschwindet, bleibt ihre Stimme und überlagert sich mit Kais Erlebnissen. Die Person, die schreibt und die Person, die liest, brauchen einander. Indem sie die Dinge benennen, durch das Geschichtenerzählen selbst, schaffen sie einen Raum der Zugehörigkeit.
Können Sie über Ihre Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen aus verschiedenen Kulturkreisen in diesem Film sprechen?
Ohne die Erfahrung, die ich mit Xiaobin in meinem ersten Film El Futuro Perfecto gemacht habe, hätte ich mich nie an diese Arbeit gewagt. Damals war es nicht meine Intention, die chinesische Community von Buenos Aires zu erkunden oder Xiaobins Herkunft. Doch mit Xiaobin als Übersetzerin passierte beides. Sie hat nicht nur die Sprache übersetzt, sondern mir auch ein emotionales Verständnis für ihren Hintergrund ermöglicht.
Es braucht Vertrauen und gegenseitiges Wohlwollen, um die immer neuen Missverständnisse zu klären und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Während der Proben haben die Darsteller:innen die Dialoge und Übersetzungen diskutiert und sich dadurch angeeignet. Sie haben mich auf Unstimmigkeiten in Details der chinesischen oder brasilianischen Kultur hingewiesen. Einige der chinesischen Darsteller:innen musste ich anfangs dazu auffordern. Ich habe ihnen versichert, dass es nicht unhöflich, sondern im Gegenteil unverzichtbar ist, dass sie mich verbessern.
Natürlich blieben Fragen offen. Ich war es nicht gewohnt, so sehr die Kontrolle abzugeben, so vielen Stimmen gleichzeitig zuzuhören. Aber das interessiert mich: nicht aus einer einzigen Perspektive zu arbeiten, sondern dass der Text in Gemeinschaft wächst.
Gleichzeitig waren die vielen Sprachen die größte Herausforderung. Wir mussten unser eigenes Übersetzungssystem entwickeln. Ich komme auf Portugiesisch zurecht, aber Mandarin verstehe ich nicht. Ich habe es nicht ernsthaft versucht zu lernen. Es interessiert mich mehr, mit dem zu arbeiten, was entsteht, wenn wir nicht meinen, einander zu verstehen. Wieso sollten wir nicht an die Grenzen der Verständigung gehen und ihre Möglichkeiten ausdehnen?
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit erfahrenen Schauspielern wie Nahuel Pérez Biscayart und Wang Shin-Hong?
In Dormir de olhos abertos haben wir erfahrene Schauspieler:innen und Menschen, die noch nie mit Film zu tun hatten, zusammengebracht. Es lief ganz organisch. Shin-Hong und Nahuel bringen beide eine Sensibilität für diese hybride Art der Arbeit mit. Shin-Hong produziert zum Beispiel auch Dokumentarfilme in seinem Herkunftsland Myanmar. Sie sind dazu bereit, ihr Spiel dem der Laien-Darsteller:innen anzupassen.
Sie sind ein bisschen wie Geheimagenten vor der Kamera, die dabei helfen, kompliziertere Szenen am Laufen zu halten. Nahuel hat eine große Sensibilität für Rhythmus und Komposition. In einem Bild mit vielen verschiedenen Menschen sorgt er ganz beiläufig dafür, dass alles in stetiger Bewegung bleibt, ohne im Chaos zu enden.
Nahuel hatte einen kleinen Auftritt in meinem ersten Film. Ich wusste, dass seine Präsenz den Laien-Darsteller:innen dabei hilft, sich auf das Spiel einzulassen. Ich liebe es, wenn ich im Filmschnitt darüber rätsele, ob jemand gerade etwas spielt oder einfach nur da ist. Irgendwie haben sie es alle geschafft, mir dieses Rätsel mitzugeben, die erfahrenen Schauspieler:innen ebenso wie die Laien. Ich hoffe, dass dieses Rätsel sich nie auflöst
Was hat es mit der Präsenz von Hochhäusern und Aufzügen in dem Film auf sich?
In der Stadtsoziologie sind mit ‚Nicht-Orten‘ Infrastrukturen gemeint, die überall auf der Welt gleich aussehen und eine Identität oder Geschichtlichkeit negieren. Oft haben sie eine transitorische Funktion: Flughäfen, Shopping Malls, Stadt-Autobahnen, Überführungen. In Recife sind mir ein Hochhaus-Typ aufgefallen, der überall auf der Welt stehen könnte. Auch er negiert den lokalen Kontext.
Ich finde die Symbiose reizvoll, die Filme mit ‚Nicht-Orten‘ eingehen: Filme belegen noch die kältesten Orte mit Eigenartigkeit, indem sie von dem Leben und den Gefühlen zeugen, die hier stattfinden.
Ich sehe auch eine Analogie zwischen Ausländer:innen und ‚Nicht-Orten‘: wer als erwachsener Mensch in eine fremde Stadt in einem neuen Land zieht, für den hat kein Ort eine Geschichte und er selbst ist geschichtslos in der Stadt. Sich selbst und die neue Stadt zusammenzuführen ist eine Aufgabe, die nie ganz beendet wird.
Regie-Notizen
Meinen letzten Film habe ich mit chinesischen Laiendarsteller:innen in Buenos Aires gedreht, an den Wochenenden, weil alle unter der Woche in chinesischen Supermärkten und Importgeschäften arbeiteten. Am folgenden Samstag fehlte oft jemand, war plötzlich in eine andere Stadt, ein anderes Land oder zurück nach China gezogen. Eine Darstellerin sagte zu mir: ich könnte jetzt überall hingehen und mich anpassen, wenn die Arbeit das verlangt. Aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.
Ich fing an, mich zu fragen, was Zugehörigkeit bedeutet. Zu wem, zu was gehört man? Verlieren wir nicht alle unter Umständen immer wieder das Gefühl von Zugehörigkeit? Zu diesem Zeitpunkt lebte ich selbst seit vielen Jahren in Argentinien. Deutschland war mir fremd geworden, aber in meinem neuen Land wurde ich als Ausländerin wahrgenommen. Ich wollte einen Film machen, der in jeder Stadt der Welt stattfinden könnte, mit Darsteller:innen, die überall hingehen könnten und nirgends dazugehören. Was würde passieren, wenn der Film ihr unstetes Dasein und die flüchtigen Beziehungen zu seinen Prinzipien erklärt, gegen die Regeln der Fiktion?
Im Film beschreibt Xiaoxin, was um sie herum geschieht. Sie gibt den Dingen Namen und abstrakten Gefühlen Ausdruck. Kai wird zu ihrer Leserin. Ohne sich je zu begegnen, sind sie füreinander da. Für mich sind Filme Orte, an die wir immer zurückkehren können. Wir können sie bewohnen und in ihnen ein Zuhause finden.