Norte - Das Ende der Geschichte (Norte – hangganan ng kasaysayan)

Der begabte Jus-Student Fabian hat sich zurückgezogen, führt aber mit Kommilitonen und Professoren noch immer Debatten, in denen er seine vage Nietzscheanische, antisoziale Philosophie predigt. Als er sie durch den Mord an einer gierigen Geldverleiherin in die Tat umsetzt, wird ein Bauernsohn zum Sündenbock gestempelt. Während dessen Frau um seine Freilassung aus dem Gefängnis kämpft, zieht Fabian unbehelligt übers Land … Der philippinische Ausnahmeregisseur Lav Diaz schafft in seinen epischen Entwürfen die Fusion von romanhafter Tiefe und filmischer Breite – lange « Echtzeit »-Einstellungen und langsame, subtil gesetzte Fahrten durch « Alltagsszenarien » mit symbolischen Obertönen. Auch die schmerzlich genaue Seelenforschung und der große Geschichtsentwurf werden bei Diaz eins. Seine menschlichen Tragödien sind immer auch die historischen Tragödien seiner Nation: Fabian ist zugleich Dostojewskis Raskolnikow und Ex-Präsident/Diktator Marcos. (Christoph Huber | Filmmuseum)

 

Dostojewskis Schuld und Sühne trifft auf poetischen Realismus: In seinem neuen, in Cannes gefeierten Meisterwerk, entwirft Lav Diaz ein Sittengemälde der modernen Philippinen, das einem mit seiner filmischen Opulenz und mit seinem radikalen Nihilismus die Sprache verschlägt.

Der bürgerliche Jurastudent Fabian hat genug von der modernen Gesellschaft und will endlich seine revolutionären Ideen in die Praxis umsetzen. Sein Opfer wird die Pfandleiherin seines Wohnviertels: Er ermordet sie, doch die Spur des Verbrechens führt zu Joaquin, einem armen Schuldner der Ermordeten, der ohne Beweise zu einem Geständnis gebracht wird und für Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis verschwindet. Zurück bleibt seine Frau mit den beiden Kindern, die nun alleine den täglichen Kampf ums Überleben meistern muss.

Diese kurz angerissenen Handlungsstränge verwebt Lav Diaz zu einem fulminanten, anspielungsreichen und spannenden Gesellschaftsroman, in dem die individuellen Schicksale der Protagonist_innen den Spiegel bilden für eine in den Jahrhunderten des Kolonialismus und den Jahrzehnten der Diktatur beschädigte Gesellschaft.

Pressespiegel

„Ein Kraftakt. Ein Triumph. Ein wahres Stück Kunst.“ The New York Times

„Gigantisch… Euphorisch… Außerordentlich bewegend. NORTE ist mit nichts zu vergleichen im zeitgenössischen Kino.“ The Guardian

Biografie

Geboren 1958 in Cotabato, Philippinen. Studierte Wirtschaft und Film in Manila. Arbeitete zunächst als Musikjournalist und Fotograf, ehe er 1999 seinen ersten Langfilm THE CRIMINAL OF BARRIO CONCEPCION realisierte. Weitere Filme: Batang West Side (2002), Hesus, The Revolutionnary (2002), The Evolution of a Filipino Family (2004), Heremias (2006), Melancholia (2008), Butterflies Have No Memories (2009), Purgatorio (2009), Century of Birthing (2011), The Day Before The End (2012), Alamat Ni China Doll (2013), Norte, The End of History (2013), Storm Children: Book 1 (2014), From What Is Before (2014), A Lullaby To The Sorrowful Mystery (2016). Für THE WOMAN WHO LEFT erhält er den Goldenen Löwen in Venedig. Seine Filme sind immer wieder mal bei der Viennale oder im Filmmuseum gezeigt worden.

Lav Diaz ist ein Filmemacher, der von vielen als Elder Statesman des dritten Golden Age des philippinischen Kinos betrachtet wird. Seine Filme zeigen die Nöte der Menschen auf den Philippinen, unter dem Joch der spanischen und amerikanischen Kolonisation, während der autoritären Marcos-Ära und in der Diaspora. Vor den Festivalpremieren von Norte, Das Ende der Geschichte (Cannes 2013) und FROM WHAT IS BEFORE (Locarno 2014), galt Diaz als uninteressant für den Kinomarkt außerhalb Asiens. Das lag in den Augen der Verleiher an den enormen Spiellängen seiner Filme, die von drei bis zehn Stunden reichten. Das gemächliche Tempo, in dem sich diese Filme entfalteten, spiegelt die malaysische Ästhetik im Ansatz von Lav Diaz wider.

Die kurz aufeinanderfolgenden Norte und FROM WHAT IS BEFORE zeigten einen neuen Grad der Produktivität und auch erweiterte Fördermöglichkeiten für Diaz. Die internationale Kritik reagierte äußerst wohlwollend auf die sichtbar größeren Budgets und « Produktionsstandards » dieser Filme. Dem Publikum musste man nachsehen, dass es den Eindruck bekam, die einzigartige künstlerische Vision dieses Filmemachers käme aus dem Nichts: obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahrzehnte aktiv war, wurde NORTE zum ersten Film, der weltweit in vielen Ländern einen Vertrieb fand.

Diaz’ Lehrjahre führten ihn in die « pito-pito »-Filmstudios der Philippinen, wo für Vorproduktion, Dreh und Postproduktion jeweils nur sieben Tage veranschlagt wurden. Von diesen frühen Werken enthält nur NAKED UNDER THE MOON (1999) Anzeichen seines späteren formellen Einfallsreichtums, auch wenn seine hypnotischen Qualitäten von Sexszenen unterminiert wurden, die das Filmstudio vorschrieb. Diaz’ erstes wirkliches Meisterwerk war sein letzter auf Zelluloid gedrehter Film BATANG WEST SIDE, der die alltäglichen Kämpfe von migrantischen Communities in Jersey City zeigt. Kurz zuvor hatte Diaz bereits mit der Arbeit an dem epischen Film THE EVOLUTION OF A FILIPINO FAMILY (fertiggestellt 2004) begonnen, das erste seiner Werke, für das er MiniDV nutzte, ein für den Heimgebrauch gedachtes Digitalvideo-System, welches neue kreative Freiheiten ermöglichte. Ohne die technischen und finanziellen Grenzen, die das Arbeiten mit Filmmaterial mit sich brachte, wuchsen die Filme von Lav Diaz in der Länge, sowohl in den Einzelszenen, als auch die Gesamtlänge betreffend.

Der über den Zeitraum von zehn Jahren entstandene EVOLUTION zeichnet das schwierige Leben einer Bauernfamilie auf den Philippinen in den 1970er und 1980er Jahren nach. Mit der wachsenden Zugänglichkeit digitaler Kameras wurden Diaz’ Filme zunehmend ambitionierter und bedienten sich zur Inspiration gleichermaßen bei russischer Literatur wie beim gegenwärtigen soziopolitischen Status quo der Philippinen. Die ästhetische Handschrift von Lav Diaz blieb während dessen immer intakt. In Anbetracht dessen zeigen seine zwei jüngsten Werke eine interessante Dichotomie: einerseits der achtstündige A LULLABY TO THE SORROWFUL MYSTERY, der sich als schier undurchdringlich für diejenigen zeigt, die sich nicht in philippinischer Geschichte und Literatur auskennen, andererseits der weniger als vier Stunden lange THE WOMAN WHO LEFT, Diaz’ bis dato vielleicht zugänglichster Film.

Material

Filmplakat

Regie Notizen

Wenn man sich die Philippinen anschaut, sieht man, dass viele Menschen fast wie besessen sind von religiös-fundamentalistischen, evangelikalen Bewegungen. Das ist sehr extrem und sehr gefährlich. Die Menschen versuchen sich mit diesen Ideologien vor dem Unbekannten zu schützen, das sie als bedrohlich empfinden.

Und dann gibt es den Norden. Der Norden ist der Ort, von dem aus sich der Faschismus in diesem Land ausbreitete. Der Norden ist die Heimat von Ferdinand Marcos. Deswegen habe ich den Film Norte genannt. Wenn man heute in den Norden geht, kann man eine sehr oberflächliche Entwicklung beobachten: Viele Leute arbeiten im Ausland und die schicken Geld. Und die Familie Marcos ist immer noch an der Macht. Die Tochter als Gouverneurin, die Mutter als Kongressabgeordnete, der Bruder als Senator da oben im Norden. Das ist ihr Königreich. Man bekommt eine düstere Ahnung davon, wenn man in den Norden fährt, eine Ahnung davon, was wir alle wegen dieser Gegend gelitten haben.